„Die Botschaft war: Ihr Idioten!“

von Interview: Jens Mühling

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Foto: Jan Woitas/pa-ZB

Oksana Sabuschko las Tom Sawyer, während der KGB ihre Eltern bespitzelte. Ein Gespräch über die Macht nackter Körper, Völkermord und nationalistische Fans

Frau Sabuschko, Ihr Roman „Museum der vergessenen Geheimnisse“ wurde in Ihrer Heimat als „ukrainisches National-Epos“ bezeichnet ...

... und das war noch harmlos. Es hieß, das Buch gebe der Ukraine ihre Geschichte zurück, es sei der große Gesellschaftsroman, auf den das Land gewartet habe, es begründe eine neue ukrainische Identität.

Wow! Sehen Sie das auch so?

Ich würde sagen: Wie ein Buch wahrgenommen wird, sagt mehr über die Leser aus als über das Buch. Die Reaktionen besagen wohl in erster Linie, dass die Ukraine um ihre Identität ringt.

Leonid Krawtschuk, der bis 1994 Präsident der Ukraine war, erzählte, er habe Ihr Buch im Urlaub gelesen – und brauche jetzt gleich noch mal Urlaub, um sich davon zu erholen.

Er wurde in einem Fernsehinterview nach seinen kulturellen Interessen gefragt und musste irgendetwas sagen. Bücher von Oksana Sabuschko zu lesen, ist in der Ukraine inzwischen eine Art Chiffre für Intellektualität, weil meine Sprache nicht ganz einfach ist. Also erklärte Krawtschuk, er habe im Urlaub das „Museum der vergessenen Geheimnisse“ gelesen, die Lektüre sei nicht einfach gewesen, und nun brauche er erst einmal eine Ruhephase, um das Buch zu verdauen.

Kurz: Er hatte es gar nicht gelesen.

Das nehme ich stark an, denn sonst wäre ihm aufgefallen, dass er selbst als Präsident darin vorkommt und nicht besonders schmeichelhaft geschildert wird.

Wenn man bei Amazon nach Ihren Büchern sucht und sich beim Vornamen vertippt, bekommt man statt Literatur die „Sexpuppe Oxana“ angeboten, 22,95 Euro, „weich, anschmiegsam, zu allem bereit, geeignet für Vaginal- und Analverkehr...“

Da sehen Sie, was westlichen Männern zu ukrainischen Frauennamen einfällt.

Die Aktivistinnen der Frauenbewegung „Femen“ demonstrieren seit Jahren gegen westlichen Sextourismus. Meist treten sie dabei nackt auf.

Die Ziele von „Femen“ finde ich ehrenwert, aber ihre Aktionen sehe ich skeptisch. Es ist eine alte feministische Tradition, den weiblichen Körper als Waffe einzusetzen, um männliches Denken zu kritisieren – das habe ich früher selbst gemacht, als ich noch jung und hübsch war. Aber ein nackter Körper ist ein sehr starkes Bild. Wer es überreizt, erzielt den gegenteiligen Effekt. „Femen“ werden inzwischen als diese jungen, hübschen Dinger aus der Ukraine wahrgenommen, die sich überall ausziehen. Ihre Fotos erfüllen in den Medien die gleiche Funktion wie die Werbeanzeigen der Sexindustrie.

Sie selbst sind anders vorgegangen?

In den 90er Jahren hatte ich eine Art feministische Uniform, die ich bei akademischen Konferenzen trug. In der Ukraine ist es für junge Frauen nicht leicht, sich bei solchen Veranstaltungen Gehör zu verschaffen, man wird als Sexobjekt gesehen, nicht als Intellektuelle. Also trug ich ein schwarzes Clubjackett mit weißem Kragen, wie ein Schulmädchen, dazu ein sehr kurzes Cocktailkleid, schwarze Strumpfhosen, hohe Absätze und eine strenge Brille.

Das muss toll ausgesehen haben.

Wenn ich den Raum betrat, hatte ich sofort die Aufmerksamkeit des männlichen Publikums. Aber dann tritt dieses hübsche Ding plötzlich ans Podium und wirft scharf formulierte, schneidend intelligente Sätze in den Raum. Die Botschaft war: Ihr habt gesehen, was ihr wolltet, das war’s, jetzt geht’s zur Sache. Oder kürzer: Ihr Idioten!

In Ihrem jüngsten Essayband „Planet Wermut“ erzählen Sie von einem Mann, der sich Ihnen bei einer Veranstaltung als „Verehrer“ vorstellte ...

... und als ein Bekannter meiner Mutter. Ich fand erst später heraus, was für ein Bekannter das war: Ein ehemaliger KGB-Mitarbeiter, der in den 70er Jahren meine Eltern verhört hatte.

Hatte er Gewissensbisse, als er vor Ihnen stand?

Im Gegenteil, er war stolz, die Eltern einer berühmten Literatin „gekannt“ zu haben. Wissen Sie, die Erinnerung ist eine zerbrechliche Angelegenheit. Menschen neigen dazu, die schlimmen Dinge, die sie anderen Menschen angetan haben, einfach zu vergessen. Sie belügen sich selbst, weil das auf Dauer weniger zeit- und energieraubend ist, als andere zu belügen.

Wussten Sie als Kind, dass Ihre Eltern Ärger mit dem KGB hatten?

Ich erinnere mich gut an die erste Durchsuchung unserer Wohnung, das war 1965, ich war fünf Jahre alt. Wir lebten noch in meiner Geburtsstadt Luzk, in der Westukraine. Meine Eltern waren beide Literaturwissenschaftler, sie dozierten an der örtlichen Uni. Sie waren jung, schön und beliebt bei ihren Studenten, wir hatten ständig junge Leute zu Gast, die bei uns aßen, redeten, Gedichte rezitierten. Als eines Tages plötzlich sechs Männer vor der Tür standen, freute ich mich, dass wir wieder mal Gäste hatten...

... aber es waren ungebetene Gäste.

Ich merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Niemand redete, Mama und Papa saßen mit versteinerten Gesichtern auf dem Sofa, während die Männer durch die Wohnung liefen. Als mir klar wurde, dass niemand mit mir spielen würde, nahm ich meine Bücher und wollte raus auf den Balkon. Einer der Männer hielt mich auf, er sagte: „Mädchen, zeig mir mal deine Bücher.“ Ich erwartete eine literarische Diskussion – aber er blätterte nur stumm durch meine Kindergeschichten und gab sie mir wortlos zurück.

Was wollten die von Ihren Eltern?

Nichts Konkretes, es war einfach der Beginn einer neuen Säuberungswelle, die einsetzte, als Chruschtschows Tauwetterperiode beendet wurde und Breschnew an die Macht kam.

Zehn Jahre später wurde Ihr Vater verhaftet.

Nein, in Haft war er nicht, er wurde nur verhört und aus der Uni rausgeschmissen. Hätte man ihn eingesperrt, würden wir hier heute wahrscheinlich kein Interview führen, denn dann hätte ich als „Kind eines Volksfeinds“ nie eine Uni besuchen können.

Was hat man Ihrem Vater vorgeworfen?

Er war einfach nur politisch verdächtig. Worum genau es bei den Verhören ging, werde ich nie herausfinden, weil mein Vater kurz darauf starb und seine Akte vernichtet wurde. Im KGB-Archiv fand sich später nur noch eine Index-Karte, da war aufgelistet, dass vier Bände Material vorgelegen hatten, der erste Band hatte 400 Seiten, der zweite 300, und so weiter. Darunter stand der Hinweis, dass die Akte „nicht von historischem Wert“ gewesen und deshalb zerstört worden sei. Der ukrainische KGB hat 1991, als sich das sowjetische Ende abzeichnete, im großen Stil Archive verbrannt, damit die Informanten nicht entlarvt werden. Das erklärt viele Probleme, die die Ukraine heute hat, im Unterschied zu Polen, Tschechien...

... oder Ostdeutschland.

Genau. Bei den Recherchen zum „Museum der vergessenen Geheimnisse“ unterhielt ich mich einmal mit einem ukrainischen Archivar, der an einem Austauschprogramm mit Mitarbeitern der Stasiunterlagenbehörde teilgenommen hatte. Er erzählte mir völlig fassungslos: „Diese glücklichen Deutschen! Sie haben ausgerechnet, dass sie nur noch 16 Jahre brauchen werden, um ihre Akten auszuwerten!“ Bei uns gibt es nichts auszurechnen. Wir werden ewig im Nebel stochern. Nie werden wir aufarbeiten können, welche unserer Politiker in den sowjetischen Terror verstrickt waren, weil das Beweismaterial vernichtet wurde.

Seit Viktor Janukowitsch Präsident ist, scheint die Ukraine zurück in die Vergangenheit zu steuern: Oppositionelle wie Julia Timoschenko werden weggesperrt, Journalisten eingeschüchtert, Posten mit Günstlingen besetzt.

Als Janukowitsch 2010 an die Macht kam, war das natürlich ein Schock: Wir hatten freie Wahlen, und es gewinnt dieser Idiot. Ich glaube, die Mehrheit hat diesen Schock inzwischen überwunden. Unser unerschöpflicher ukrainischer Optimismus lässt uns immer im Blick behalten, dass alles auch hätte schlimmer kommen können – und dass es für alle vorhergehenden Generationen schlimmer war. Sehr viel finsterer als die heutige Lage waren die Jahre unmittelbar vor der Orangenen Revolution, die Zeit, in der mein „Museum der vergessenen Geheimnisse“ spielt. Damals hatte ich wirklich das Gefühl, keine Luft mehr zum Atmen zu haben. Es gab keinerlei freie Medien, keine Möglichkeit, Stellung zu beziehen, seine Meinung zu sagen, auf die Entwicklung des Landes einzuwirken. Das haben wir zum Glück hinter uns.

Von Viktor Janukowitsch heißt es, er habe als Politiker erst einmal Ukrainisch-Kurse belegen müssen, weil er immer nur Russisch gesprochen hatte und die Landessprache kaum beherrschte.

Da ist er leider nicht der einzige Ukrainer, vor allem im Ostteil des Landes, wo Janukowitsch herkommt. Solange die Ukraine zum russischen Zarenreich gehörte, wurde die Sprache systematisch unterdrückt, und in der Sowjetzeit war es kaum besser. Das Lustige ist, dass Janukowitsch natürlich auch im Russischen einen Akzent hat. Meine Moskauer Übersetzerin schaut manchmal ukrainisches Fernsehen und ist immer entsetzt über das Russisch unserer Politiker. Sie sagt, es klänge, als machten sie sich über die Sprache lustig.

Die meisten Ukrainer sind zweisprachig, wie Sie. Hören Russen Ihnen Ihre Herkunft an?

Selbstverständlich. Wenn ich mich konzentriere, kann ich zwar über kurze Distanzen wie ein dressierter Affe die Aussprache eines Moskauers nachahmen, aber nach fünf Minuten würde mich jeder Spion entlarven. In meiner Familie wurde Ukrainisch geredet, auf dem Schulhof sprach ich Russisch. Meinen Eltern war wichtig, dass ich die beiden Sprachen nicht durcheinanderbringe, wie es viele Ukrainer tun: „Surschyk“ nennt sich dieser Mischdialekt.

In welcher Sprache haben Sie die Literatur entdeckt?

In beiden. Ich habe sehr früh mit dem Lesen angefangen. Als ich vier war, waren es meine Eltern leid, mich täglich mit neuen Büchern zu versorgen und brachten mich in die örtliche Bibliothek. Dort wollte man mir erst nicht glauben, dass ich schon lesen kann. Zur Probe drückte man mir ein Buch in die Hand, ich musste laut vorlesen, auf Ukrainisch. Den Anfang kann ich immer noch auswendig: „‚Tom!’ – Keine Antwort. – ‚Tom!’ – Alles still...“

Tom Sawyer? Ein Kinderbuch aus dem imperialistischen Ausland? Warum hat man Ihnen nicht „Timur und sein Trupp“ von Arkadi Gaidar gegeben?

Gute Frage. Das wäre 1964 in der ukrainischen Provinz tatsächlich naheliegender gewesen. Es müssen wohl gute Bibliothekare gewesen sein. Vielleicht ist das ein weiterer Beleg für eine These von mir – nämlich, dass es in der Ukraine immer eine stille, von außen kaum sichtbare Art des kulturellen Widerstands gab, der erst 1991, mit der Unabhängigkeit, überraschend zum Vorschein kam.

Wogegen richtete sich dieser Widerstand?

Gegen das Schweigen, das man den Ukrainern zu Sowjetzeiten aufzwang. Wir lebten in einem Land, in dem versucht wurde, die Erinnerung auszulöschen – angefangen mit dem „Holodomor“.

Der großen Hungersnot der 30er Jahre, der mindestens drei Millionen Menschen zum Opfer fielen ...

... und die keine Hungersnot war, sondern gezielter Mord. Alle Versuche, das zu relativieren, zu erklären, es sei damals auch in anderen Teilen der Sowjetunion gehungert worden, kann kein Ukrainer akzeptieren. In jeder Familie in diesem Land kursieren bis heute Erinnerungen an die Tragödie, und genau darum geht es immer bei Völkermord: um Traumata, die auch in der vierten Generation nicht vergessen werden. Der „Holodomor“ brachte den Ukrainern das Schweigen bei. Und gleichzeitig den stillen Widerstand gegen das Schweigen.

Liegt es an der schrecklichen Geschichte der Ukraine, dass Debatten hier oft so rückwärtsgewandt wirken? Im Parlament gibt es regelmäßig Schlägereien, wenn es um die Bewertung historischer Ereignisse geht.

Das Land kämpft nach 20 Jahren Unabhängigkeit immer noch darum, seine historische Identität wiederzufinden – und manchmal findet dieser Kampf in einem sehr wörtlichen Sinne statt.

Einerseits beschwören in der Ukraine alle die Bedeutung der „Nationswerdung“, andererseits wollen sie unbedingt in die EU. Ist das nicht ein Widerspruch?

Nein, das sind zwei Seiten derselben Medaille. Bei den meisten Ukrainern ist der Wille, der EU beizutreten, nur der Wunsch, als Europäer anerkannt zu werden, die Bestätigung zu bekommen, dass wir ein Teil Europas sind, was wir immer waren. Die meisten Menschen haben keine Ahnung, was es in der Praxis bedeutet, zur EU zu gehören. Auch das ist Teil des Identitätskampfs, von dem ich gesprochen habe. Wir ringen um unsere Vergangenheit. Deshalb sind auch historische Romane in der Ukraine so populär, die meisten Bestseller gehören zu diesem Genre. Auch der Erfolg meines „Museums der vergessenen Geheimnisse“ hängt damit zusammen.

Das Buch porträtiert unter anderem die „Ukrainische Aufstandsarmee“, kurz UPA, die im Zweiten Weltkrieg und bis in die 50er Jahre hinein gegen die sowjetische Besatzung kämpfte, aber auch schreckliche Massaker an der polnischen Minderheit verübte. Die alten Schlachtrufe der UPA hört man heute manchmal in Fußballstadien.

Ja, viele Fans rufen „Ruhm der Ukraine!“.

Wissen die, woher diese Sprüche kommen?

Vielleicht nicht im Detail, aber sie wissen, dass der Hintergrund nationalistisch ist. Das ist ein bisschen absurd, weil die Fanbewegung in der Ukraine sehr jung ist, und dieser romantische Nationalismus, den sie ungebrochen in die Jetzt-Zeit transportiert, kommt ja eigentlich aus dem19. Jahrhundert. Manchmal ist es wirklich zum Lachen. Es gibt ein Gedicht von Taras Schewtschenko...

... dem ukrainischen Nationaldichter...

... es heißt „Kaukasus“ und wendet sich gegen Russlands koloniale Feldzüge. Da gibt es den ukrainischen Vers „Boritesja, poborete“, ein Spiel mit Wortähnlichkeiten, das in der Übersetzung etwas banaler klingt: „Kämpft, und ihr werdet siegen!“ Diesen Slogan sah ich neulich auf einem Banner ukrainischer Fußballfans, neben einem Schewtschenko-Porträt. Eine sehr kreative Sinnentstellung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass deutsche Fußballfans mit einem Goethe-Zitat in die Schlacht ziehen würden.

Via: pnn.de


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