„Ich bin Charlie – ich will Charlie!“

Was passiert, wenn man das Cover der neuen „Charlie Hebdo“-Ausgabe verkehrt hält? Dann kann man statt Mohammeds Turban männliche Genitalien sehen, mit Augen, Nase, Mund. Kann, nicht muss – aber diese subversive Sehart dürfte wohl Absicht des Zeichners sein, allein schon, weil das herabhängende Turbanband so unmotiviert wirkt. „Versöhnlich“ ist das Coverbild der neuen „Charlie Hebdo“-Ausgabe wirklich nicht, auch wenn das zunächst viele meinten: Mohammed hält weinend eine „Ich bin Charlie“-Tafel, die Überschrift darüber lautet: „Alles ist vergeben“. Wer weiß!

 

Fünf Millionen Exemplare

Versöhnlichkeit wäre auch untypisch für das provokante Magazin, umso mehr in diesen Tagen. Mittwochfrüh war die neue Ausgabe in Frankreich erhältlich, nach wenigen Stunden schon kaum noch zu haben. Zu den sage und schreibe drei Millionen gedruckten Exemplaren sollen nun noch zwei Millionen kommen. Das Ausland giert nach dem Heft, eilig werden die Begleittexte zu den Karikaturen ins Englische, Deutsche etc. übersetzt. Zwei Wochen wird diese Ausgabe (theoretisch) im Handel sein, dafür fällt kommende Woche eine Ausgabe aus.

Nach „Ich bin Charlie“ also „Ich kaufe Charlie“. Und ebenso wie die internationale Solidarität der vergangenen Tage unter dem Motto „Ich bin Charlie“ hat auch diese internationale Kaufwut bei allem guten Willen etwas Groteskes. Denn „Charlie Hebdo“ hat nun einmal eher spezielle, sehr linke, nicht unbedingt mehrheitsfähige und auch zu einem beträchtlichen Teil auf Frankreich zugeschnittene Inhalte: noch dazu aufbereitet in Zeichnungen, über deren Qualität man immer schon streiten konnte. Nun stürzen sich Millionen Menschen zum Teil sehr unterschiedlicher Denkungsart auf die neue Ausgabe des Satiremagazins.

 

Das Wunder von Nôtre-Dame

Das hätte die ermordeten Redakteure wohl zum Witzeln gebracht. Die nicht ermordeten wundern sich jedenfalls bei aller Dankbarkeit: Mehrere Beiträge widmen sich den sonderbaren Nebeneffekten der „Ich bin Charlie“-Allianz, die gar nicht Passendes zusammenspannt – allen voran das religionsfeindliche Blatt und die katholische Kirche, lange Zeit wichtigste Zielscheibe von „Charlies“ Spott.

„Das Wunder der vergangenen Tage, das uns am meisten zum Lachen gebracht hat, ist, dass zu unseren Ehren die Glocken von Nôtre-Dame geläutet haben“, schreibt auf Seite zwei Chefredakteur Gérard Biard. Daneben sieht man einen Papst, einen Rabbi und einen Imam, die sich die Welt aufteilen, sowie eine obszöne Karikatur über Sœur Emmanuelle, die „Mutter der Müllmenschen“. An die Adresse von Papst Franziskus schreibt der neue Chefredakteur: „Wir wollen die Glocken von Nôtre-Dame zu unseren Ehren nur dann läuten hören, wenn Femen-Aktivistinnen sie läuten“ – also Anhängerinnen der feministischen Femen-Bewegung, die mit nackten, mit Parolen bemalten Oberkörpern auf die Straße gehen.

Auch im aktuellen Heft beschränkt sich „Charlie Hebdo“ gar nicht auf die Kritik am islamischen Extremismus (sie ist in diesem Heft nicht einmal besonders gegenwärtig), Kirche und Papst werden ebenso wenig geschont. Dazu kommen Erinnerungen an die toten Kollegen, posthume Texte und Zeichnungen aus deren Hand, Karikaturen zu den Anschlägen, aber vor allem auch zu den Reaktionen.

„Eine dezimierte Clownfamilie, mit zehn neuen Mitgliedern“ zeigt eine Karikatur. Die zehn „neuen Clowns“ sind französische Politiker und Lieblingsfeinde von „Charlie Hebdo“, die in den vergangenen Tagen ihre Solidarität mit dem Magazin gezeigt haben, etwa Staatspräsident François Holande und sein Vorgänger, Nicolas Sarkozy. Auch über die mitmarschierende deutsche Kanzlerin, Angela Merkel, macht man sich lustig, deren „liberale Politik“ den Redakteuren stets verhasst war, oder über den ebenfalls anteilnehmenden israelischen Premier, Benjamin Netanjahu, den der ermordete Chefredakteur, Charb, „so gern als sturen Folterknecht zeichnete“.

 

Massaker oder bloß „Attentat“?

Ein treuer „Charlie“-Leser äußert sich in einem Brief irritiert – „Charlie Hebdo“-Leser hätten sich immer schon als etwas Besonderes fühlen können, und nun plötzlich seien alle Charlie... Er wird gleich beruhigt: Die Solidarität werde bald verschwinden, dann seien die angestammten Leser wieder einzigartig. Die Solidarität als bloßer Hype macht die Redakteure freilich auch nachdenklich. Einer von ihnen unterhält sich mit dem toten Charb und fragt den im Jenseits Allwissenden, ob die große Solidarität sich nicht schnell wieder verflüchtigen werde. „Ganz gewiss“, erwidert er, sie lasse ja bereits jetzt nach: „Schon sagt man ,Attentat‘, wo man ,Massaker‘ sagen müsste.“

Wer „Ich bin Charlie“ sage, müsse wissen, dass das auch „Ich bin Laizismus“ bedeute, betont Chefredakteur Biard, und zwar „Laizismus, punktum“. In den vergangenen Jahren hätten die Redakteure sich bei der Verteidigung der bedingungslosen Trennung von Staat und Religion ein wenig allein gefühlt. Sie seien als islamophob, als christianophob, als verantwortungslos, als Leute kritisiert worden, die Öl ins Feuer gießen. „Und das geht schon wieder los.“

 

Kritik an „Islamo-Linken“

Besonders heftig geht man dabei mit dem „eigenen Lager“ ins Gericht, nämlich Teilen der Linken. Ein Artikel klagt die „Aasgeier des Komplotts“ an, das Treiben von Verschwörungsgläubigen im Netz, die den Anschlag reflexartig den „Neokons“, der CIA oder dem israelischen Geheimdienst in die Schuhe schieben würden. „Radikale Linke“ und „Islamo-Linke“ würden für jedes Attentat den US-Imperialismus verantwortlich machen und schon seit den Anschlägen von 9/11 den Islamismus von jeder Verantwortung freisprechen.

Eines ist klar: Niemand kann von einem Magazin, das unter solchen Umständen entstanden ist, Geniestreiche erwarten. Egal, was man vom aktuellen Heft aber hält, jede „Ich kaufe Charlie“-Aktion hat derzeit automatisch Bekenntnischarakter: vielleicht nicht für bedingungslosen Laizismus, wie der Chefredakteur des Blatts es gern hätte, aber sicher für eine Kultur des Protestlachens. Wie der ermordete Zeichner Cabu so schön sagte: „Krepieren ist schon schlimm genug, da muss man nicht auch noch Schiss haben.“

Verkauf. Die am Mittwoch erschienene „Charlie Hebdo“-Ausgabe war trotz der Rekordauflage von drei Millionen Stück in Frankreich noch am selben Tag vergriffen. Nun sollen zwei weitere Millionen Exemplare in Druck gehen. Das Heft wird in 25 Ländern erscheinen. Ein Gericht in der Türkei hat die Sperrung von Internetseiten angeordnet, die das Titelbild der neuen Ausgabe zeigen. Wann sie in Österreich erhältlich sein wird, stand am Mittwoch noch nicht fest.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.01.2015)

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