Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion triumphierte wie so oft in Krisenzeiten ein traditionalistisches Geschlechtermodell. In den Jahren des Turbokapitalismus und des kollabierenden Staates wurde die «Krise der Männlichkeit» ausgerufen. Der paternalistische Staat hatte in Russland jahrzehntelang Eigeninitiative gebremst – und nun sollten die Männer plötzlich ganz alleine für ihre Familien aufkommen. Die meisten scheiterten. Häusliche Gewalt gegen Frauen nahm zu, Männer starben immer früher durch Alkoholismus, Kriminalität und Selbstmord.
Frauen hatten zwar geringere Karrierechancen und verschwanden weitgehend aus dem politischen Leben. Dafür standen ihnen mehr gesellschaftlich akzeptierte Optionen zur Verfügung, unter anderem ein gesellschaftliches Engagement. «Sowjetfrauen» hatten als alters- und geschlechtslose, aber autoritäre Geschöpfe in unförmigen Mänteln mit flauschigen Strickmützen gegolten. Sie wurden «Tanten» genannt. Hinter dem Eisernen Vorhang stöckelte nun die hyperfeminine «neue Russin» hervor. Bald eroberten sibirische Models die Laufstege der Welt. Die Katalogbraut aus dem Osten war gestern: Mit Pussy Riot und Femen betreten Politaktivistinnen die Bühne. Pussy Riot wollen nicht weniger als das System Putin stürzen.
«Einen wie Putin»
Putin rettete die russische Männlichkeit. Er gewann als Nachfolger des zunehmend tapsigen Jelzin die Unterstützung der «Massen» nicht zuletzt durch sein Image als Macho-Held. In einem bemerkenswerten Spagat gelang es ihm, den Wertkonservatismus patriarchalischer Traditionen mit dem Image eines Pop-Stars aus der Welt der russischen Lifestyle-Magazine zu verbinden. «Einen wie Putin» wünschte sich die Frauen-Pop-Gruppe Pojuschtschie Wmestje (Gemeinsam singend) im Frühjahr 2002 als Ehemann und trällerte: «Das ist einer, der nicht trinkt, nicht schlägt und nicht abhaut.» Putin war das Produkt sorgfältiger medialer Inszenierungen. Bei seinem Amtsantritt war er als erfolgreicher Judoka nicht nur sportlich, sondern galt mit 47 Jahren auch als jung und cool agierender Politiker mit Stil. Je nach Situation trat er elegant oder sportlich-lässig gekleidet auf. Er zeigte Interesse an schönen Autos und Kunst, aber auch an Männerhobbys wie Jagen und Angeln. Putin löste sich vom bisherigen Bild russischer Politiker und eroberte die Welt der Pop-Kultur.
Pussy Riot stehen in der Tradition einer langen Reihe couragierter russischer Frauen. Genau betrachtet haben Petrograder Textilarbeiterinnen mit einer Hungerrevolte die russische Februarrevolution von 1917 losgetreten. Ihnen folgten Generationen sowjetischer Dissidentinnen wie Lidija Tschukowskaja oder Ewgenija Ginsburg. 1968 entfalteten Larissa Bogoras und Natalja Gorbanewskaja, beide Mütter kleiner Kinder, auf der alten Richtstätte vor dem Moskauer Kreml Transparente gegen den Einmarsch in Prag. Sie wurden nach Sekunden verhaftet. Pussy Riot trugen bei ihrer Aktion auf demselben Richtplatz im Winter Sommerkleidchen, die Dissidentinnen hatten im Sommer Winterkleider getragen – vorbereitet auf Sibirien. Die sowjetischen Dissidentinnen waren der Kultur der alten Intelligenzia verpflichtet. Ihre Waffen waren Worte und moralische Integrität. In postsowjetischer Zeit folgten ihrem Beispiel kritische Journalistinnen wie Anna Politkowskaja, die Frauen von Memorial und die Soldatenmütter, die, ausgestattet mit der traditionellen Autorität russischer «Tanten», gegen die mörderischen Riten des Militärs agieren.
Nun erheben sich die jungen Frauen der postsowjetischen Generation, Gruppen wie die schrille Protestorganisation Femen in der Ukraine, deren Aktivistinnen oben ohne zunächst vor allem gegen Frauenhandel und Sextourismus demonstrieren, und Pussy Riot in Russland, welche die russische Politik als Pseudopolitik bezeichnen und mit aggressiven Performances auf den herrschenden Wertkonservatismus zielen. Dazu stellen sie skandalöse Bilder her und verwenden ihre Frauenkörper als Zeichen. Die weltweit medienwirksamen Aktionen sind eine neue Variante der weiblichen Protesttradition, die bewusst als Kampf mit den «Waffen der Frau» inszeniert wird. Gerade für das konservative Rollenmodell gelten Frauenproteste als besonders alarmierend.
Eine Staatsmacht, die vor laufender Kamera gewaltsam gegen junge Frauen vorgeht, verliert jeden Respekt. Indem Femen und Pussy Riot neo-traditionalistische Frauenbilder unterlaufen, machen sie sich diese geschickt zunutze. Tatsächlich sind Pussy Riot dem Moskauer Konzeptualismus verpflichtet. Diese sowjetische Kunstrichtung der siebziger und achtziger Jahre entlarvte die versteinerte Obrigkeit durch Ironie. Es ist auch nicht das erste Mal, dass unerschrockene Angeklagte an einem Schauprozess den Spiess umdrehen und ihn als Plattform für politische Botschaften nutzen. Dies gelang 1966 erstmals den Schriftstellern Juli Daniel und Andrei Sinjawski, welche Texte im Westen veröffentlicht hatten. Als sie sich nicht schuldig bekannten und ihre Schlussvoten nicht in rituellen Floskeln der Unterwürfigkeit vorbrachten, verstiessen sie gegen alle Konventionen sowjetischer Sprachmuster. Sie gaben den Worten ihren wahren Sinn zurück.
Später wurde die Symbolik der Bilder wichtig. Chodorkowski erlangte als freundlich blickender Angeklagter hinter Gitterstäben im Gerichtssaal die Weihen des Märtyrers. Seine zur Schau getragene Duldsamkeit, sein weises Lächeln und die leise Sprache waren ganz der alten russischen Intelligenzia verpflichtet. Diese verstand sich traditionell als moralische Instanz in kritischer Opposition zur Regierung und zur Aufklärung der Massen verpflichtet. Dieses Image legte sich Chodorkowski aber erst Mitte der neunziger Jahre zu: Er trennte sich von Schnurrbart, Lederjacke und Pilotenbrille, nahm ab, schnitt sich die Haare kurz und kaufte eine randlose Brille. Sein Erfolg machte ihn zum potenziellen Rivalen für Putin.
Konzeptualistische Anspielungen
Auch die Aktivistinnen von Pussy Riot wussten sich im Käfig des Gerichtssaals in Szene zu setzen. Sie geben sich nicht als wilde Punkerinnen, sondern gleichen der Muttergottes, die sie angerufen haben. Sie berufen sich auf Prozesse gegen sowjetische Dissidenten und zitieren mit der Losung «¡No Pasaran!» auf dem T-Shirt die in der Sowjetunion als Heldin verehrte spanische Freiheitskämpferin Dolores Ibárruri. Die wenigsten verstehen allerdings die konzeptualistischen Anspielungen. Vorläufig scheiterten die Aktivistinnen mit ihrem Ziel, die Mehrheit der zu sechzig Prozent als wertkonservativ eingeschätzten Russen aus ihrer Lethargie aufzurütteln. Demokratie in Russland? Teilhabe am Staat als Gemeinwesen liegt schlicht ausserhalb des öffentlichen Erwartungshorizontes in einem Staat, in dem das Volk noch niemals regiert hat. Da helfen bis auf weiteres nur Stossgebete.
Monica Rüthers ist Professorin für osteuropäische Geschichte an der Universität Hamburg.
Via: nzz.ch
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