Frankreich hat zwar immer noch männliche Präsidenten, aber auch immer noch das symbolische Trostpflaster für die Frau: Marianne, die Mutter der Nation, das weibliche Gesicht der Republik. Eine Frau, die nie existiert hat, aber umso mehr die Fantasie anregt. Nicht einmal, warum sie so heißt, ist klar – Marie und Anne waren einst typische 08/15-Vornamen, vielleicht gab auch ein Revolutionslied den Ausschlag.
Jedenfalls wurde sie zur Allegorie der französischen Republik. Büsten etablierten sich in Rathäusern, Statuen auf öffentlichen Plätzen, und 1969 hatte sie zum ersten Mal das Gesicht einer Prominenten: Schauspielerin Brigitte Bardot. Seitdem wählten die Bürgermeister unter anderem Catherine Deneuve, Laetitia Casta und eine beliebte Talkshow-Moderatorin als Modell für eine neue offizielle Marianne-Skulptur, jede war umstritten.
Aber Marianne prangt auch auf Briefmarken, seit Dienstag gibt es nun eine neue, und auch die spaltet die Nation. Die zwei Künstler haben sie nämlich den Zügen einer 23-jährigen Ukrainerin nachempfunden, die vor allem durch öffentliche Happenings (etwa gegen Sexismus und Homophobie) mit bemalten nackten Brüsten bekannt ist: „Femen“-Aktivistin Inna Schewtschenko. Sie gehört zu den jungen Frauen, die die feministische Bewegung aus der Ukraine nach Frankreich importiert haben.
Barbusigkeit gehört schon lange zur Ikonografie der laizistischen Heiligen, spätestens seit dem Gemälde „Die Freiheit führt das Volk“, das Eugène Delacroix 1830 unter dem Einfluss der Juli-Revolution malte. Aber verkörpert Femen auch die republikanischen Ideale Freiheit, Gleichheit, Brüder- bzw. Schwesterlichkeit? Das sehen die Franzosen unterschiedlich.
Gläubige Muslime etwa werden sich von Schewtschenko wenig repräsentiert fühlen, so twitterte sie vor wenigen Tagen: „Gibt es etwas Dümmeres als den Ramadan und eine hässlichere Religion als den Islam?“ Ihre Ausdrucksweise ist für manche gewöhnungsbedürftig (in Zukunft müssten Homophobe, Extremisten und Faschisten bei jedem Brief „lécher mon cul“, „meinen A... lecken“, twitterte sie zur Briefmarken-Wahl).
Viele Feministinnen kritisieren Schewtschenko außerdem als Pseudo-Feministin: Sie käue antifeministische Klischees wieder (von einem Feminismus als „zwischen Konferenzen und Büchern“ eingezwängte „alte, kranke Frau“) und vertrete einen Zeitungscover-fähigen Pseudo-Feminismus, in dem weder für Alter noch mangelnde Attraktivität Platz sei.
Frankreichs sozialistischer Präsident, François Hollande, muss die Entscheidung nicht rechtfertigen, er hat junge Gymnasiasten zwischen den Entwürfen wählen lassen. Er will aber mit der Wahl zeigen, dass die „Jugend im Mittelpunkt meiner Präsidentschaft“ stehe. Und diese Aussage passt nun wirklich perfekt zu Marianne, diesem ewigen politischen Fantasma.
E-Mail: anne-catherine.simon@diepresse.com
("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.07.2013)
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