Abscheuliches Verbrechen weckt Volkszorn in der Ukraine

29. März 2012, Neue Zürcher Zeitung

Demonstrationen gegen die Nachsicht der Justiz gegenüber Familien von Polit-Bonzen

Diese Aktivistinnen der Gruppe «Femen» wünschen den Tätern im Fall Oksana Makar den Tod. (Bild: Keystone / AP)

Ein abscheulicher Kriminalfall hat in der Ukraine grosse Empörung ausgelöst. Der Zorn des Volkes richtet sich gegen die Funktionärskaste, deren Angehörige sich mit ihren Familien oft auch bei schlimmen Verbrechen als unantastbar erachten.

Rudolf Hermann, Prag

Sie werden «Maschory» genannt, und sie stehen für das erschreckende Malaise des ukrainischen Rechtssystems. «Maschory» sind die Sprösslinge mittlerer und höherer Funktionäre, deren Familien politisch vernetzt sind und die deshalb glauben, sich alles erlauben zu können. Über ein besonders abstossendes Beispiel solchen Verhaltens wurde von ukrainischen Medien unlängst aus der Stadt Mykolaiw im Süden des Landes berichtet.

Missbraucht und gewürgt

Es ging um die junge Oksana Makar, die seither in einem Spital um ihr Leben kämpft. Die 18-Jährige wurde Anfang März in einer Bar von zwei Männern knapp über 20 angesprochen und erklärte sich bereit, mit ihnen zusammen zu einem weiteren Mann nach Hause zu gehen. Dort wurde sie wiederholt vergewaltigt. Als sie mit einer Anzeige drohte, entschlossen sich die Männer, die Frau zu strangulieren. Als sie keine Lebenszeichen mehr zeigte, wurde sie von den Männern in ein Tuch eingewickelt, auf einen verlassenen Bauplatz geschleppt und angezündet. Sie überlebte nur deshalb, weil sie später per Zufall von einem Passanten entdeckt wurde, dessen Auto gerade beim Bauplatz eine Panne hatte.

Die Polizei war laut ukrainischen Medienberichten rasch zur Stelle; eine Spur zu den drei Tätern wurde bald ausgemacht, und diese konnten verhaftet werden. Dabei zeigte sich, dass zwei von ihnen die Söhne höherer Funktionäre der Regionalverwaltung waren und einer offenbar auch enge Verbindungen zur Jugendorganisation der Partei der Regionen, der ukrainischen Regierungspartei, hatte. Trotz der Schwere des Delikts, dessen sie verdächtigt wurden, liess man sie wieder frei.

Die Nachricht über den Fall und das Verhalten der Polizei breitete sich jedoch wie ein Lauffeuer in Mykolaiw und später im ganzen Land aus, und der Unmut über den schonenden Umgang mit den Tätern war enorm. Die Polizei nahm deshalb die zwei Freigelassenen eilig wieder in Haft. Auf einer lokalen Website und später auf Youtube tauchte ein aus Polizeikreisen durchgesickertes Video der Einvernahme eines der drei Täter auf. Die Authentizität der Aufnahme wurde laut der Agentur AP von der Polizei bestätigt. Der junge Mann schilderte in unbeteiligter Weise, wie man Oksana Makar vergewaltigt und gewürgt habe, wie die drei Männer, nachdem sie sich des leblos scheinenden Körpers entledigt hätten, Wodka kaufen und an einem Kiosk etwas essen gegangen seien. Eine Welle der Sympathie für Oksana Makar, die bereits einen Arm und beide Füsse verloren hat und deren Überleben weiterhin unsicher ist, erhob sich. Leute spendeten Blut oder trugen zu Geldsammlungen bei, wobei allerdings sofort auch falsche Kontonummern von Betrügern auftauchten, die aus der Situation Kapital zu schlagen versuchten. Parallel zu den Sympathiebezeugungen kam es zu heftigen Protesten über soziale Internet-Netzwerke sowie auf der Strasse gegen die Vorzugsbehandlung der «Maschory» durch Polizei und Justiz.

Zahlreiche Fälle

Von Medien wurden in diesem Zusammenhang allgemein bekannte Fälle von Angehörigen aus Prominenten-Familien aufgelistet, wo die Justiz grosse Nachsicht gezeigt hatte. Etwa beim Sohn eines hohen Funktionärs der nationalen Strassenverwaltung, der einen Mord zwar gestanden hatte, aber nach drei Jahren schon wieder auf freiem Fuss war, angeblich wegen eines Krebsleidens. Aufsehen hatte unlängst auch der Fall erregt, bei dem der Sohn eines Abgeordneten der Partei der Regionen in einem Restaurant eine junge Frau spitalreif schlug und mit einer Strafe auf Bewährung davonkam. Ebenfalls auf freiem Fuss soll der Sohn eines Staatsanwalts sein, der mit einem Geländewagen drei Frauen angefahren und tödlich verletzt hatte und darauf von der Unfallstelle wegfuhr.

Das Webportal «EU Observer» zitierte einen ungenannt bleiben wollenden EU-Diplomaten aus Kiew mit den Worten, wer aus der Familie eines Potentaten sei, könne praktisch mit Straffreiheit rechnen. Nepotismus und Missachtung des Rechts seien an der Tagesordnung. Der ältere Sohn von Präsident Janukowitsch etwa sei seit dem Amtsantritt seines Vaters in den Kreis der hundert reichsten Ukrainer aufgestiegen. Das seien nicht Dinge, die in normalen Ländern möglich seien.

Kritik unerwünscht

Von aussen vorhalten lassen will sich die Ukraine solche Zustände aber nicht. Als der EU-Botschafter in Kiew, José Pinto Teixeira, vor einiger Zeit auf anhaltende Probleme mit der Korruption verwies, wurde er vom Kiewer Aussenministerium scharf zurechtgewiesen. Teixeiras Aufgabe sei es nicht, Kommentare und Beurteilungen abzugeben, sondern gute Beziehungen zu fördern, hiess es in einer Stellungnahme. Präsident Janukowitsch selbst wird nie müde zu erklären, wie unparteiisch und unabhängig die ukrainische Justiz sei.

Doch nicht nur von grosser Publizität begleitete Fälle wie etwa jener der politischen Rachejustiz gegen die frühere Ministerpräsidentin Timoschenko lassen ausserhalb der Ukraine die Beteuerungen Janukowitschs hohl klingen, sondern auch die zahlreichen Beispiele notorischer «Vorzugsbehandlung» der politischen Klientel der Mächtigen.

Die Heftigkeit und Geschwindigkeit der öffentlichen Reaktion auf das Verbrechen an Oksana Makar dürfte die politische Elite beunruhigt haben; umso mehr, als die Ukraine auf Wahlen zusteuert und die Regierung auch an anderen Fronten mit Popularitätsverlust kämpft. Laut Kommentatoren kombinierten sich im Fall Makar zwei in der Bevölkerung verbreitete Empfindungen zu einem explosiven Gemisch – die Missstimmung über die Häufigkeit von Gewaltverbrechen und die Frustration über das überhebliche Gebaren der politischen Klasse.

Auf die juristische Aufarbeitung des Verbrechens an Oksana Makar wollen nun Janukowitsch und der von ihm ins Amt gehobene Generalstaatsanwalt Wiktor Pschonka deshalb persönlich ein Augenmerk richten. Ob damit eine unparteiische Aufklärung garantiert oder im Gegenteil verhindert werden soll, muss sich erst noch zeigen.



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1 Leserkommentar:
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Hans-Rudolf Lehmann (29. März 2012, 10:42)
Politverhalten...

Für solche Fälle, warum lernt die internationale Politik nicht und verhängt automatisch Einreisesperren für solche Länder. Damit, sollten sämtliche Politiker Einreise- und Durchreisesperren erhalten, bis Reformen durchgeführt werden. Solche politischen Isolierungen können Wunder wirken, da dadurch die Politiker sowohl innenpolitisch wie auch aussenpolitisch marginiert würden. Allerdings, es bedarf der Einheit der freien Welt und dass, ist wahrscheinlich ein unmögliches Unterfangen!

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