Charlotte Roche: "Ich reiß’ mir wieder den Arsch auf"

2008 sorgte die einstige Viva-Moderatorin Charlotte Roche für einen kleinen Skandal, weil sie in ihrem Debütroman offen über Intimhygiene und Masturbationspraktiken schrieb. Nun kommen die »Feuchtgebiete« ins Kino - die Autorin versichert glaubhaft, dass sie das freut, gibt den Femen-Aktivistinnen Ratschläge und gesteht, dass Atheismus trostlos sein kann.

"Die Presse": Ende August kommt die Verfilmung Ihres Romans „Feuchtgebiete" ins Kino. War es eine gute Idee, Ihr Buch zu verfilmen?

Charlotte Roche: Die Rechte liegen bei mir. Es war also meine alleinige Entscheidung, ob es verfilmt wird. Aber ehrlich: Ich wäre nie auf die Idee gekommen, den Film bleiben zu lassen.

Immerhin ist es gut möglich, dass der Film erneut Aufregung um Ihre Person und Empörung über Intimhygiene, Masturbationstechniken und Hämorrhoiden auslöst.

Aber ich rede gern darüber. Ich finde den Film so gut, dass ich alles tun würde, um ihm zu helfen. Der Hauptdarstellerin Carla Juri, dem Regisseur und dem Produzenten zuliebe. Deswegen reiße ich mir im wahrsten Sinne des Wortes wieder den Arsch auf.

Im Film spricht die Hauptfigur Helen Memel ganz ähnlich wie Sie, sie verschluckt Silben und dehnt manche Buchstaben besonders lang oder ungewöhnlich. Mich hat das irritiert, weil ja nicht Sie die Hauptfigur sind, sondern die fiktive Helen.

(Lacht) Das ist mir auch aufgefallen. Wie Sie saß ich im Kino und dachte: „Hä, das ist ja meine Stimme. Ich habe doch gar nicht mitgespielt." Ganz kurz war ich irritiert, aber ich finde, es verliert sich dann. Den ersten Satz - „Seit ich denken kann, habe ich Hämorrhoiden" - sagt sie tatsächlich so, wie ich ihn sagen würde. Ich kann es mir nur so erklären, dass Carla Juri sehr viele Aufnahmen von mir gesehen hat.

Dieser Effekt wird wieder die Frage aufwerfen, wie viel Charlotte Roche in der Figur Helen Memel steckt. In einem Interview haben Sie 2008 nach Erscheinen des Buches gesagt, das Buch sei zu 70 Prozent autobiografisch und zu 30 Prozent fiktiv.

Das war nur ein Witz. Da mir so ein alter, fieser Journalist geifernd erklärt hat, dass ich mir das doch nicht alles ausdenken könne, habe ich gesagt, 70 Prozent sind echt, 30 fiktiv. Nur um ihm das um die Ohren zu hauen. Ich finde, durch den Film verblasst der Fokus auf meine Person. Ab sofort werden die Menschen eher Carlas Gesicht im Kopf haben und nicht meines. Es ist befreiend für mich, dass jemand anderer diese ganze Matschepampe macht.

Sie haben auch einmal gesagt, es könne „vom echten Sex, dem Sex, der riecht und schmeckt und schmutzige Geräusche macht, nicht genug geben". Der Satz war aber kein Witz, oder?

Der war kein Scherz, nein. Mir wird ständig gesagt, „Frau Roche, muss das denn sein, immer diese Sexualität in Ihren Büchern, haben wir denn nicht schon genug Sex in unserer Gesellschaft?" Ich sage, nein. Wir sind oversexed, aber von gefaktem Sex. Wenn man echte Nacktheit, echte Sexualität zeigt, dann ist das eine Befreiung, beinah ein aufklärerischer Akt.

Der Film ist gar nicht so explizit. Die eigene Fantasie beim Lesen des Buches erlaubt viel freizügigere Assoziationen.

Vieles von dem, was im Buch vorkommt, konnten sie nicht zeigen. Das verstehe ich auch. Wenn man alle Szenen aus dem Buch darstellen würde, würde man vermutlich neunzig Prozent der Zeit ein entzündetes Poloch auf der Leinwand sehen. Im Buch ist das ja schon sehr redundant. Dieser Eiter und der körperliche Schmerz sind im Film sehr viel weniger.

Als Sie bei Viva moderierten, galten Sie für viele als Königin des Independent-Musik-TV. Der Massenerfolg Ihres Buches hat viele dieser frühen Fans vergrault. Hat Erfolg auch Nachteile?

Richtig viele Nachteile. Ich war 18, als ich mit meiner Sendung begonnen habe. Sieben Jahre lang hatte ich praktisch Minus-Einschaltquoten, ich hatte zwar viele Sympathien, aber null Erfolg. Es war eine massive Umstellung, einen solchen Mainstream-Erfolg zu haben. Es ändert jedes soziale Gefüge.

Dennoch haben Sie nicht aufgehört, auch als „Star" sehr viel von sich preiszugeben.

Ich mag das nicht, wenn Leute über sich schreiben und es nachher leugnen und sagen: „Meine Freundin hat Depressionen, nicht ich." Ich selbst schütze mich nicht, Verwandte aber sehr wohl. Die können ja auch nichts dafür, dass sie auf einmal eine Schriftstellerin in der Familie haben. Das ist ja auch ein bisschen wie ein Fluch.

Wirklich? In Ihrem zweiten Buch „Schoßgebete", in dem das Liebes- und Sexualleben in einer Ehe seziert wird, stand plötzlich Ihr Ehemann im Mittelpunkt des Interesses.

Allerdings. Das wird dann schnell nicht mehr lustig. Man kann aber ein wahrhaftiges Buch schreiben und trotzdem die eigene Familie schützen. Mein Ehemann im Buch ist vier Ehemänner, die ich kenne.

Ihre gewitzte Interviewführung hat Sie bekannt gemacht. Gibt es eine Frage an Sie selbst, die Ihnen noch nicht gestellt wurde?

Ich denke nicht: ,Poah, wieso fragen die mich nicht das und das?‘ Bei „Feuchtgebiete" habe ich mich nur gefragt, wieso nie jemand auf die Religion und den Atheismus, der im Buch vorkommt, eingeht. Die Menschen finden Sex dann doch aufregender, als über Religion zu sprechen. Das hat mich manchmal traurig gemacht.

Dann lassen Sie uns über Religion sprechen: Die Mutter von Helen Memel hält sich im Buch am Katholizismus fest, im Film probiert sie alle möglichen Weltreligionen aus. Helen hingegen verweigert jegliche Religionszugehörigkeit. Ist das reine Auflehnung gegen die Eltern?

Da steckt sehr viel von mir in Helen. Ich bin selber Atheistin und man tut sich da selber manchmal leid, weil man nichts hat, woran man glauben kann. Im Prinzip müssten alle Atheisten einen Orden verliehen bekommen, weil sie an nichts glauben. Das ist ein schreckliches Leben, wenn man nichts glaubt! Weil es ist so trostlos.

Wenn es so trostlos ist, warum ändert man seine Glaubenshaltung nicht?

Man kann sich ja nicht selbst veräppeln. Man glaubt oder nicht. Sicher hat das auch viel mit Erziehung zu tun. Ich glaube, dass christlich erzogene Kinder sehr oft emotional erpresst werden. Wie oft habe ich von Erwachsenen gehört, die nicht austreten, obwohl sie nicht mehr glauben, weil die tote Mutter immer noch über ihnen schwebt. Man müsste einmal hochrechnen, wie viel Geld die Kirche mit emotionaler Erpressung durch die Eltern verdient.

Trotzdem empfinden Sie den fehlenden Glauben als trostlos?

Ich bin da ehrlich. Wenn es etwa um Beerdigungen oder Hochzeiten geht, die kann man als radikaler Atheist gar nicht besuchen, wenn man die Kirche wirklich ablehnt.

Sie besuchen die Hochzeiten Ihrer Freunde nicht?

Doch. Seit ein paar Jahren war ich aber auch nicht mehr auf Hochzeiten eingeladen. Sollte mir vielleicht zu denken geben. Das Problem als Atheist ist: Man will ja auch heiraten und Kinder kriegen, beerdigt werden - aber es gibt keine Rituale für Atheisten. Keine heidnischen Bräuche. Man macht sich ja lächerlich, wenn man irgendwo ein Loch buddelt. Ich fände es schön, wenn ich in einer Zeit lebte, in der es Atheismusrituale gäbe, die seit 2000 Jahren anerkannt wären.

Geht Ihnen das Interviewführen ab?

Das Leben als Interviewte ist viel einfacher. Interviews zu führen ist viel schwieriger, als sie zu geben. Ich fand es immer sehr schwer, weil man die Leitung in der Hand hat. Wenn das Interview schlecht wird, ist irgendwie immer der Interviewer schuld. Bei Print kann man ja noch pfuschen, weil niemand dabei war, aber im Fernsehen sieht jeder, wenn man nicht mehr weiß, wie man weitermachen soll, weil der Interviewte nicht mitmacht.

Was halten Sie vom Aktivismus mit blankem Busen, wie ihn die Femen praktizieren?

Ich finde es immer unpassend, wenn eine Feministin den anderen sagt: „Das ist doof, was ihr da macht."

Das klingt so, als käme nun ein „aber".

Ja, ein kleine Kritik habe ich schon: Sie nehmen sich zu viele Themen auf einmal vor, das verwischt die Aussage und wirkt unglaubwürdig. Und ich habe ein großes Problem damit, dass sich Männer wie Putin im Grunde freuen, wenn Frauen mit nackten Brüsten vor ihnen auftauchen. Ich würde den Femen daher empfehlen, mit alten, nackten Frauen zu demonstrieren. Die jungen Frauen sind mir zu gut aussehend, zu schick und sexy. Jeder, gegen den die demonstrieren, würde ihnen am liebsten Geld in die Unterhose stecken vor Freude. Ich kenne so viele Männer, die sagen: „Wieso? Ist doch geil. Wieso sind nicht alle Frauen bei Femen?" Dann denkt man nur: „Oh, bitte!" Das ist ja nicht das, was die Femen bewirken wollen.

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("Die Presse", Print-Ausgabe vom 04.08.2013)

Via: diepresse.com


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