Die nackte Wahrheit über die Ukraine

„Ich bin froh, wenn das Turnier endlich vorbei ist“, sagt der Ukraine-Experte
im Berliner Reisebüro.

Dabei sollte er sich doch freuen: Die Europameisterschaft
lockt Massen in das Land, in das sich vorher nur Abenteurer trauten. Aber
der vermeintliche Fachmann behauptet: „Für Fußball-Touristen ist das gar
nicht geeignet.“ Er warnt vor schlechter Infrastruktur, Sprachproblemen,
Kriminalität.

Die Ukraine – das sind auch für mich auch andere finstere Klischees:

Arme hübsche Mädchen, die ihr Leben als Prostituierte fristen und vom Westen
träumen. Eine Diktatur, in der die meisten arm sind und wenige Oligarchen
die Gesellschaft beherrschen. Eine Ex-Sowjetrepublik, noch immer ein Mündel
des großen Nachbarn, voll auf Russland fixiert. Ein Staat ohne freie
Meinungsäußerung, in der die Freiheitsheldin Julia Timoschenko im Gefängnis
gequält wird. Horrende Übernachtungspreise in Hotels, schlechte
Infrastruktur, korrupte Polizei. Ein unmögliches Austragungsland für ein
Sommermärchen. Oder?

Nach 33 Stunden in vier Zügen, drei Tagen in drei Städten, drei Spielorten
konnten wir die größten Klischees mal überprüfen.

Der Unabhängigkeitsplatz von Kiew. Vor acht Jahren haben hier die Massen
während der Orangen Revolution gegen Wahlfälschung, Korruption und Moskaus
Einfluss protestiert. In einem Hinterhof in der Mykhailivska-Straße, knapp
400 Meter entfernt, lebt der Widerstand weiter. Hier haben die Aktivistinnen
von Femen ihr Quartier.

Junge Ukrainerinnen, die sich ausziehen für Freiheit und Frauenrechte, gegen
Sexismus und Ausbeutung. Das Klischee von der Prostitution. „Die Euro ist
ein Katalysator für Sex-Tourismus“, erklärt uns Nackt-Aktivistin Alexandra
Schewtschenko (24).

Das aktuelle Motto der Gruppe prangt am Eingang der Femen-Zentrale: „Fuck Euro
2012
“. Den Zusammenhang zwischen Fußball und Prostitution sehe man am
Olympiastadion von Kiew, wo besonders viele Stripclubs und Bordelle eröffnet
hätten.

„Wir nutzen Sexualität als Protest. Und unsere Nacktheit ist gleichzeitig ein
Ausdruck von Freiheit“, erklärt Alexandra. Ihre 30 Co-Aktivistinnen
demonstrieren während der EM beinahe täglich. Zuletzt auch in Hamburg auf
der Reeperbahn, vor allem in Polen und natürlich in der Ukraine.

Nach unserem Treffen werden die Femen in Donezk verhaftet

Wie gefährlich dieser Protest ist, zeigte sich erst gestern: Alexandra
Schewtschenko und ihre Freundinnen Jana Tschanowa (24) und Anna Bolschakowa
(24) wurden in Donezk festgenommen, danach angeblich stundenlang verhört.
Anna Bolschakowa hätten die Polizisten ins Gesicht geschlagen, sie zur
Einschüchterung in ein Leichenschauhaus geführt.

Die Polizisten hätten vor den Kämpferinnen ihre Unterstützung für den
örtlichen Oligarch Rinat Achmetow erklärt.

Doch diese Aktion soll die Femen nicht davon abhalten, das Finale zu stören.
Den Plan für ihre Aktion zeigen sie uns auf dem Boden sitzend anhand einer
Stadion-Skizze.

Sex und Schönheit als Mittel, um sich in den vermeintlich goldenen Westen
abzusetzen. Für viele junge Frauen läge darin die einzige Hoffnung, aus der
Armut zu entkommen, sagt Alexandra. Tatsächlich begegnet uns in Charkow
offensives Werben, Flirtversuche aufreizend gekleideter junger Mädchen. Am
Flughafen fragt eine Fernseh-Moderatorin, ob ich denn eine Ukrainerin
heiraten würde – wenn sie denn nur ausreichend hübsch sei.

Das Klischee von Armut und Ungleichheit: „Das Leben in der Ukraine ist teuer.
Mieten kosten in Kiew mehr als in Berlin“, berichtet André Eichhofer, ein
deutscher Journalistenkollege, der seit zwei Jahren aus dem Land berichtet.
Er zahlt für seine Zwei-Zimmer-Wohnung in der Innenstadt 350 Euro. Bei einem
monatlichen Durchschnittseinkommen von 250 Euro ist das für die meisten
Ukrainer unbezahlbar. Besonders schmerzhaft für die Armen sind aber die
hohen Lebensmittelpreise, die meist über deutschem Niveau liegen.

„Viele meiner Freunde wollen das Land verlassen, wenn sie mit dem Studium
fertig sind“, erzählt Dima Kovel (18).

Der Informatikstudent führt uns durch Kiew. „Ich möchte hier bleiben. Immerhin
kann ich als Programmierer wesentlich mehr als der Durchschnitt verdienen.“
Für Sascha S. (29), unseren Taxifahrer in Charkow, ist klar: „Die Politiker
sind korrupt, das Land ist unter Oligarchen aufgeteilt. Die normalen
Menschen haben sich an das System der ständigen Schmiergeldzahlungen
gewöhnt.“

Wie krank der Staat ist, sehe man doch schon an Präsident Viktor Janukowitsch,
sagt er. Der Politiker saß vor seinem Aufstieg wegen Raubes und
Körperverletzung zweimal im Gefängnis. Zwischen 2002 und 2007 war er zweimal
Ministerpräsident, seit 2010 steht er an der Spitze, hat politische Gegner
in Straflager und Untersuchungshaft einsperren lassen.

Das Klischee von Unfreiheit und Gleichschaltung. Wir sind bei Pawlo
Holubowytschs (16) Familie, in einer Plattenbauwohnung nahe des EM-Stadions
von Lemberg, zu Kaffee, Honig und Schokolade eingeladen. Pawlo ist ebenfalls
Informatikstudent. Seine Schwester Katja (12) spielt mit Terrier Amur. Vater
Oleg (42) verkauft Klimaanlagen, seine Frau Frau Nadja (41) it
Englischlehrerin. Sie bestätigen das Urteil ihres Sohnes und anderer
Gesprächspartner über Julia Timoschenko: „Sie ist nicht besser als die
anderen Politiker. Auch sie hat gestohlen.“ Die kranke Heldin der Orangen
Revolution, um deren Freilassung aus der Haft die Bundesregierung kämpft,
doch nur eine weitere Diebin? Oder ist dies das Ergebnis einer
diktatorischen Propaganda? „Janukowitsch hat Angst vor ihr, deswegen hat er
sie wegsperren lassen. Fernsehsender, Zeitungen, die Medien unterstützen ihn
dabei. Deswegen denken viele Ukrainer heute schlecht über Julia“, sagt Olga
Tarvids (59), eine Früh-Rentnerin, die wir vor dem Eisenbahner-Krankenhaus
von Charkow treffen. Seit einigen Wochen ist die Politikerin hier im neunten
Stock hinter Gittern und verklebten Fenstern eingesperrt. Olga und ihre
Tochter Julia Tarvids (28) gehören zur Mahnwache vor dem Hospital. Die
verbliebenen Anhänger hätten es schwer, sie zu unterstützen. „Die Macht der
Oligarchen kann jeden, jede Posten, in Konzernen oder Verwaltung, erreichen.
Solange Janukowitsch an der Macht ist, bleibt Julia eingesperrt“, glaubt
Olga Tarvids.

Das Klischee der starken Bindung zu Russland. Janukowitsch kommt aus der
Region Donezk im Osten des Landes und steht für ein enges Verhältnis zum
Nachbarn. Für viele im Westen des Landes ist das kaum zu ertragen. „Die
Russen haben meinen Vater erschossen, er war Unabhängigkeitskämpfer“,
erzählt Wladimir Bilous (76), den wir auf der Straße in Lemberg treffen. Der
Rentner hat den Einmarsch der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg und den kurzen
Jubel der Ukrainer erlebt. In der Altstadt zeugen marode, doch noch immer
prachtvolle Barock- und Jugendstil-Fassaden von der Vergangenheit unter
polnischer und österreichisch-ungarischer Herrschaft. Die Bewohner hier sind
stolz auf ihre nicht-russische Vergangenheit, auf ihre Traditionen und
Folklore. Und auf ihre eigene Sprache. Ukrainisch – eine Sprache, die zwar
wie Russisch in kyrillischen Lettern geschrieben wird, aber sonst eher an
Polnisch erinnert. „Prost“ heißt in Lemberg „Budjmo“ und nicht „Nastrowje“.

Das Klischee vom fanfeindlichen Austragungsland: Auf dem gigantischen
Freiheitsplatz im Zentrum, spielt das Schicksal von Julia Timoschenko, deren
Gefängnis nur drei Kilometer entfernt ist, keine Rolle. Oranje- und
Deutschland-Fans genießen Bier und Sonne. Viele Deutschland-Anhänger haben
die teuren Hotelpreise zur EM (die Übernachtung im Einzelzimmer kostet oft
300 Euro) akzeptiert oder günstige Alternativen wie Campingwagen gefunden.
So wie Oliver Z. (38) und Maik S. (42) aus Potsdam, die sich in Kiew für die
Turnier-Zeit ein Appartement genommen haben. „Das war etwas teurer als
sonst. Aber so war das während der WM in Berlin doch auch“, sagen sie.
Insgesamt sind beide mit der EM hier zufrieden. Nur das Bierzapfen im
Stadion müsse noch schneller gehen. „Das können die gar nicht.“

Auch Niklas Horter (31) aus Charlottenburg
und sein Kölner Kumpel Marcel Wallraff (28) haben sich mit den ukrainischen
Gegebenheiten arrangiert. Im Wohnzimmer ihrer Ferienwohnung am Marktplatz
von Lemberg sammeln sich leere Bierflaschen. Pro Nacht kostet die Bleibe in
bester Lage für vier Personen insgesamt 190 Euro. Sie sind problemlos mit
dem Auto angereist und sitzen jetzt unter Deutschland-Flaggen auf dem
Balkon: „Bei den letzten Turnieren haben wir keine Karten bekommen. Aber in
die Ukraine wollten wohl nicht so viele Fans reisen. Das war unser Glück.“

Via: bz-berlin.de


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