Die Nackten sind immer die Guten

Der Chinese Ai Weiwei stellt entblößt die Staatsmacht bloß, eine Bloggerin die religiösen Eiferer in Arabien

Auch die neue Generation der Feministinnen in der Ukraine zeigt: Sex ist eine Macht

Die Nacktheit als Protestform erlebt rund um den Globus eine Renaissance. 100 chinesische Unterstützer des Dissidenten Ai Weiwei entblößten sich aus Solidarität mit ihm im Netz. Denn die chinesischen Behörden ermitteln gegen den Künstler wegen eines älteren Fotos, das ihn und einige Frauen nackt zeigt. Der chinesische Repressionsapparat nimmt dies zum Vorwand, ihn der Verbreitung von Pornografie zu bezichtigen - die neueste in einer Reihe von Schikanen, mit denen der hartnäckige Diktaturkritiker mundtot gemacht werden soll.

Erst kürzlich hatte die ägyptische Bloggerin Aliaa Magda al-Mahdy spektakulär auf sich aufmerksam gemacht, als sie ein Bild verbreitete, das sie unbekleidet zeigt. Ihr schlugen daraufhin nicht nur blanker Hass und wütende Ablehnung vonseiten religiöser Moralwächter und Extremisten entgegen, sondern auch heftige Ablehnung aus den Reihen der säkular-liberalen ägyptischen Revolutionsbewegung. Um ihr "grenzüberschreitend" zur Seite zu springen, entblößten sich wiederum Dutzende von israelischen Frauen öffentlich.

Nackt - jedenfalls obenherum - zu Protestaktionen aufzulaufen ist bereits seit Jahren die Aktionsstrategie der ukrainischen Feministinnengruppe Femen, die international gegen die Verletzung von Frauenrechten Sturm läuft. Die meist sehr attraktiven, jungen Femen-Aktivistinnen - rund 20 an der Zahl - präsentieren ihren Körper bewusst aufreizend und setzen ihn so als Mittel ein, um Aufmerksamkeit für ihre politisch-gesellschaftlichen Anliegen zu provozieren. Ihr jüngstes Anliegen: Sie wollen die Legalisierung der Prostitution bei der Fußballeuropameisterschaft im eigenen Land verhindern.

Die Methode, sich zum Zeichen des Aufbegehrens gegen repressive gesellschaftliche Normen und Zwänge zu entblößen, ist selbstredend alles andere als neu. Erstaunlich ist allerdings, dass sie heute noch immer zu funktionieren scheint, obwohl Nacktheit durch ihre exzessive Darstellung in der Werbung, der Popkultur, in TV und Magazinen sowie auf unzähligen Sex- und Pornoseiten im Internet inzwischen allgegenwärtig ist. Die Enthüllung des Körpers im öffentlichen Raum wird gleichwohl noch immer als Tabubruch und schockierende Störung der Ordnung wahrgenommen.

Allerdings hat das in verschiedenen Weltteilen und Gesellschaftssystemen im wahrsten Sinne des Wortes existenziell unterschiedliche Konsequenzen. In vielen islamischen Ländern etwa wäre die Folge einer öffentlichen Ganzkörperentkleidung vermutlich schwerste körperliche Bestrafung, wenn nicht der Tod - schon gar für eine Frau. Der Status des weiblichen Körpers steht in der islamischen Welt im Zentrum eines erbitterten Kulturkampfs zwischen aufgeklärter Modernität und religiöser Reaktion. Der männliche Anspruch auf die totale Kontrolle über Leib und Leben der Frau ist die innerste Triebkraft des islamischen Fundamentalismus und seiner wahnhaften Forderung, Frauen dürften sich in der Öffentlichkeit nur verhüllt zeigen. Die verhasste westliche "Dekadenz" bringt er nicht von ungefähr mit dem Prinzip weiblicher Selbstbestimmung in Verbindung - wie es übrigens einst schon europäische Antimodernisten taten. So hielt der antidemokratische Kulturhistoriker Oswald Spengler (1880-1936) den Liberalismus für die Ausgeburt einer fortscheitenden, zersetzenden "Feminisierung" der Gesellschaft.

Die mutige Aktion der ägyptischen Bloggerin traf somit den Kern des politisch-kulturellen Rückständigkeitssyndroms, an dem die arabische und große Teile der islamischen Welt insgesamt leiden. Solange Frauen nicht die volle Souveränität über sich und ihren Körper zugestanden wird, bleibt dort jedes Fortschrittsstreben eine zynische Farce. Es bleibt immerhin ein Funke Hoffnung, dass die arabischen Umstürze immerhin ein Tor geöffnet haben: Die Wahrheit, dass jede Demokratisierung in dieser Region mit der Befreiung der Frau steht und fällt, lässt sich nicht mehr einfach totschweigen.

Nichts annähernd Vergleichbares wie die ägyptische Bloggerin hatten im Westen die Rebellen der Jugendrevolte in den 60er-Jahren zu befürchten, als sie gegen die autoritären Verklemmungen des "Establishments" blankzogen. Von den Blumenkindern in Kalifornien über die Genossen der Berliner Kommune 1 bis zu John Lennon und Yoko Ono - wer seinen Bruch mit einengenden Zwängen und Konventionen kundtun wollte, zog sich nackt aus und riskierte damit allenfalls eine Anzeige wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. Das Abwerfen der Kleidung stand dabei synonym für das Ausbrechen aus dem Korsett bürgerlich-zivilisatorischer Zwänge - und ließ so die Tradition einer viel früheren Protestgeneration neu aufleben.

Denn schon die Lebensreformbewegungen um die Wende zum 20. Jahrhundert hatten das Nacktsein zum Fanal der Rückkehr in die vermeintliche Unverfälschtheit der menschlichen Natur erkoren. Nudismus und Vegetarismus, wie sie etwa in der berühmten Aussteigerkolonie am Monte Verità in Ascona im Tessin kombiniert wurden, nahmen in dieser Zeit ihren Ausgang. Dabei standen den nackten Bürgerschrecks Vorstellungen vor Augen, die sich spätestens seit Jean-Jacques Rousseau (1712-1748) tief in die europäische Kulturgeschichte eingeprägt hatten. Laut Rousseau hatte es einmal einen unverbildeten menschlichen Naturzustand gegeben, in dem die Ungerechtigkeiten und Bosheiten der modernen Zivilisation noch unbekannt waren und den man bei Naturvölkern noch erkennen könne. Seitdem war die Idee der Rückkehr in die natürliche Nacktheit des tugendhaften "edlen Wilden" mit der einer Rückkehr zum angeborenen Guten im Menschen verbunden.

Diese rosseauistische Linie der europäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts führen heute der chinesische Dissident Ai Weiwei und seine Unterstützer fort, wenn sie der Diktatur den Anblick ihrer Nacktheit entgegenschleudern und ihn mit ihrer Forderung nach einer besseren, demokratischen Gesellschaft konnotieren. Durch ihr Nacktsein signalisieren sie ihr ungeschütztes Ausgeliefertsein an die Willkür der Staatsgewalt - zugleich aber auch ihren unbeugsamen Widerstandswillen: Mein bloßer Körper, sagt diese Geste, gehört mir, ist mein mir von der Natur gegebener Besitz, der unveräußerlich bleibt, selbst wenn ihr mir alles andere nehmt. Und wenn Ai Weiwei seinen unverhüllten, fülligen Körper zur Schau stellt, scheint er den Mächtigen zuzurufen: Seht her, so, wie ich von Natur aus nun einmal bin, bin ich eine Zumutung für euch - und gedenke, es zu bleiben. "Aus so krummen Holz, als woraus der Mensch gemacht ist", hatte einst schon der Philosoph Immanuel Kant (1724-1804) erklärt, könne nun einmal "nichts ganz grades gezimmert werden." Der unkaschiert unvollkommene, unbedeckte Körper wird so zum existenziellen Einwand gegen den Totalitarismus.

Auf ganz anderer symbolischer Ebene agieren die jungen ukrainischen Feministinnen von Femen. Sie sind Kinder des Zeitalters der Sexualisierung öffentlicher weiblicher Nacktheit im Dienste des Kommerzes. Nachdem sich Frauenrechtlerinnen jahrzehntelang über die Erniedrigung des weiblichen Körpers zum "Lustobjekt" und zur verführerischen "Ware" beschwert haben, nehmen die neuen Feministinnen ebendiese Rolle nun aktiv an - und ziehen gerade daraus ihr kämpferisches Selbstbewusstsein. Ihre sexuelle Attraktivität begreifen sie als potenzielle Waffe, die gegen die männlichen Nutznießer der scheinbaren totalen Verfügbarkeit des weiblichen Körpers eingesetzt wird. Wenn ihr an unsere Reize heranwollt, so lautet in etwa ihre Botschaft, müsst ihr bezahlen - jedoch in Form von Zugeständnissen an unsere politisch-gesellschaftlichen Ansprüche. Dass zu ihren propagandistischen Mitteln der Aufruf an die Frauen gehört, als Kampfmittel gezielt den sexuellen Verkehr zu verweigern, illustriert diesen Zusammenhang.

Unter der männlichen Lüsternheit schwärt - als die Achillesverse patriarchalischer Dominanz - die Angst vor der unheimlichen Kraft weiblicher Sexualität. In dem Maße, wie Erstere angeheizt wird, lässt sich Letztere ausnutzen, um die Männerwelt in die Knie zu zwingen. Das begehrte Lustobjekt, das sich seiner Macht über das begehrende Subjekt bewusst wird, sitzt am Ende am längeren Hebel.

Via: welt.de


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