«Die Ukraine ist kein Bordell»

«Die Leute werden sich am Fussball freuen und keine Zeit für Sex haben», ist Markiyan Lubkivskiy, der ukrainische Verantwortliche der Euro 2012, überzeugt. Er äusserte sich in diesem Sinne kurz vor dem Turnierstart, als er sich auch bemühte, die Medien zu einem Moratorium für negative Nachrichten anzuhalten, bis das Fussballfest vorüber sei.

In schiefem Licht erschien die Ukraine dabei vor allem wegen der Berichterstattung über den Umgang der Staatsmacht mit der inhaftierten Oppositionsführerin Timoschenko. Doch mit dem Näherrücken des Grossanlasses wurden auch Berichte häufiger, dass sich nicht nur Scharen Fussballfans für die Euro rüsteten, sondern auch eine Armee von Prostituierten. Damit aber kam ein Thema in den Fokus, das man im offiziellen Kiew gerne ausblendet.

Verkrustetes Rollenbild

Schon seit Jahren macht dabei die ukrainische Frauen- und Bürgerrechtsgruppe Femen mit spektakulären Kampagnen darauf aufmerksam, dass die Euro einen substanziellen Anstieg der Prostitution bringen und das Image ukrainischer Mädchen als leicht zu habender Girls zementieren werde. «Die Ukraine ist kein Bordell», lautet einer der Protest-Slogans der umtriebigen Gruppe junger Akademikerinnen, die sich bei ihren Kundgebungen jeweils bis zur Gürtellinie entblössen und es mit dieser Art Manifestation zu internationaler Bekanntheit gebracht haben.

Die Femen-Damen stellen sich mit ihren Aktionen gegen Rollenbilder, die in der ukrainischen Gesellschaft immer noch tief verankert sind. Präsident Janukowitsch hatte im letzten Jahr am Davoser Weltwirtschaftsforum mit der Bemerkung brilliert, der Frühling sei für Investoren eine gute Zeit, in die Ukraine zu kommen, weil die hübschen ukrainischen Mädchen sich dann leichter zu kleiden anfingen.

Und der Kiewer Bildungsminister Tabatschnyk liess sich unlängst mit dem Befund vernehmen, erfolgreiche Akademikerinnen seien meist weniger hübsch als andere Frauen. Es überrasche ihn nicht, dass viele Ukrainerinnen den Nutzen von Erziehung implizit infrage stellten. Schliesslich sei die Ukraine das Land mit den schönsten Mädchen.

Mit dem Bild einer Gesellschaft, das Männern die Rolle von Machern zuschreibt, während Frauen vor allem sexy zu sein haben, sind Janukowitsch und Tabatschnyk jedoch nicht allein. Ein Spaziergang an einem lauen Frühsommerabend über den Kiewer Prachtboulevard Chreschtschatyk oder im Charkiwer Schewtschenko-Park zeigt ein weibliches Publikum, bei dem überwiegend die Absätze hoch, die Ausschnitte tief und die textilen Verhüllungen spärlich sind.

Wachsendes HIV-Problem

Was die Prostitution betrifft, ist diese angesichts verbreiteter Armut in der Ukraine nicht selten eine Verzweiflungstat von Frauen, namentlich wenn sie aus Landgebieten stammen, wo es wenig Arbeitsmöglichkeiten gibt – sofern sie sich denn selber entschieden haben und nicht einem kriminellen Ring in die Hände geraten sind. Menschenrechtsorganisationen wie La Strada führen einen schwierigen Kampf gegen den Menschenhandel.

Medien zitierten die Schätzungen eines Sprechers der Kiewer NGO «HIV/Aids Alliance», der die Zahl der Prostituierten auf 60'000 bis 90'000 bezifferte. Das sei weit mehr als die rund 12'000, von denen die Regierung ausgehe.

Statt wie offizielle Stellen Missständen so zu begegnen, dass man ihre Existenz negiert (ein Vertreter des Innenministeriums erklärte vor Pressevertretern, vor vier Jahren hätten die Fussballfans in Österreich und der Schweiz «keine Zeit» für Sex gehabt), will die «HIV/Aids Alliance» rund eine Million Kondome verteilen. Die Ukraine hat weltweit eine der höchsten Infektions- und Neuinfektionsraten, und Aids ist eine tickende Zeitbombe.

Via: nzz.ch


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