Die Waffen der Kunst

Die regierungskritischen Performances der Russinen von Pussy Riot - ist das Kunst? Genau dieser Frage - nach der Schnittstelle zwischen Kunst, Politik und Aktivismus - widmet sich heuer der steirische herbst. Aktivistinnen wie jene von Femen, Theoretikerinnen wie Chantal Mouffe und zahlreiche Künstler wurden eingeladen, die Frage nach der Widerstandskraft von Kultur zu beantworten.

Mouffe, belgische Professorin und seit Jahrzehnten eine der Cheftheoretikerinnen der Linken, sieht die Grenzen aufgelöst. Sie spricht gegenüber ORF.at von „Artivism“ - und der funktioniert nach ganz anderen Regeln als jenen des Kunstbetriebs. Aufmerksamkeit ist hier die Währung - und nicht die Anzahl der Nullen bei den Ergebnissen von Kunstauktionen.

Der Buseneffekt

In diesem Sinne zählen die Mitglieder von Femen zu den erfolgreichsten Künstlerinnen der Welt. Als sie sich in der Ukraine erstmals mit ihrer Forderung nach Demokratie und mehr Rechten für Frauen zu Wort meldeten, habe das überhaupt niemanden interessiert, erzählen die beiden Schwestern Alexandra und Inna Shevchenko im „Camp“ des steirischen herbstes, wo sieben Tage lang rund um die Uhr Veranstaltungen zum Thema „Artivism“ stattfinden. So sei überhaupt erst die Idee entstanden, bei ihren Auftritten die T-Shirts auszuziehen.

ORF.at/Simon HadlerFemen - dem „Zu dumm für Feminismus“-Vorwurf ausgesetzt

Und siehe da - schon beim allerersten Mal, als sie ihre nackten Brüste zeigten, gab es am nächsten Tag nicht nur in der Ukraine Berichte darüber, sondern in allen möglichen Sprachen und Medien im Internet. Die Aufmerksamkeit ist den jungen, top geschminkten und stöckelbeschuhten Frauen auch in Graz sicher. Sie werden belagert, aber nicht nur von Journalisten, sondern auch von Künstlern und Aktivisten.

Das Tussi-Manifest

Dabei bekommen sie hauptsächlich Unfreundlichkeiten zu hören. Sie würden der Sache des Feminismus schaden und nach einer rein männlichen Logik agieren - heißt es, weil sie die Frau zum Sexualobjekt degradierten. Die beiden widersprechen vehement. Denn schon im zweiten Moment sei jedem Betrachter klar, dass sie ihren Körper dem Sexualkontext entreißen würden. Außerdem würden sie ihren Körper bewusst und freiwillig zur Schau stellen, schon alleine deshalb sei der Sexismusvorwurf dumm.

Reuters/Gleb GaranichBusen bringen Aufmerksamkeit - auch für politische Inhalte?

Innerhalb der Szene von Feministinnen und Aktivistinnen fühlten sie sich oft missverstanden, sagen die beiden Schwestern. Die Debatte würde sowohl über Kunst als auch über Feminismus meist in akademischen Kreisen auf hohem theoretischen Niveau geführt. Femen sei da ein Kulturschock - vom Styling her über die nackten Brüste bis hin zu ihrem Wesen. Sinngemäß erklären sie, eben Tussis zu sein.

Hübsch, blond, politisch

Denn sie sind schon von ihren Großmüttern dazu erzogen worden, sich hübsch herzurichten. Sie verstehen das als Teil ihrer Weiblichkeit und sehen überhaupt nicht ein, warum sie sich das verbieten lassen sollen. Und aus dem akademischen Kontext kommen sie auch nicht. Aber deshalb dürfe man ihnen doch nicht verwehren, Feministinnen zu sein: „Wir sind eben Hooligan-Feministinnen.“

ORF.at/Simon HadlerKatherine Ball in ihrem lichtdurchfluteten Widerstandspflanzenlabor - sie residiert in einem nur aus alten Fenstern gebauten Turm

Widerstandspflanzen für Kunstattacken

Während Femen ihre nackten Körper dem Sexualkontext entreißen, raubt Katherine Ball aus den USA dem Garten seine Unschuld. Sie wurde mit ihrem grünen Labor in einem kunstvoll, extra für den steirischen herbst gestalteten Turm aus Fenstern untergebracht. Mit schmutzigen Händen steht sie inmitten von Blumentöpfen, Erdhaufen und Pflanzenschnitt.

ORF.at/Simon HadlerDer Fensterturm des raumlaborberlin, in dem Katherine Ball residiert

Phänomene wie Urban Gardening - sich selbst zu ernähren und so die kapitalistische Agrarindustrie zu umgehen - findet sie großartig. Aber bei ihr geht es um etwas anderes: das Erproben und Züchten von „Widerstandspflanzen“. Chili-Rauchbomben statt Molotowcocktails, Kastanien mit Stachelschale statt Pflastersteinen und spezielle Pilze, die Asphalt aufbrechen - all das findet man in Balls Widerstandspflanzenlabor.

Vor allem aber steht für Ball das Züchten von pestizidresistentem Unkraut im Vordergrund. Die Pflanzen trotzen sogar der Giftkammer von Monsanto. Einem eventuellen Großangriff auf die Agrarindustrie steht also nichts mehr im Wege. Symbolisch steht ihr Labor auch für die Widerstandskraft von Kunst und Aktivismus: Unkraut vergeht nicht - man muss resistent werden gegen die Ablenkungen und Waffen des kapitalistischen Systems.

Der Kampf gegen „das System“

Genau darum geht es auch der belgischen Professorin Mouffe. Sie berichtet von jahrelangen Debatten unter Theoretikern, Aktivisten und Künstlern, wie dem System am besten beizukommen sei: Entweder, indem man seine Institutionen infiltriert und so für Veränderung sorgt - oder, indem man alternative Strukturen und Lebensmodelle komplett außerhalb des herrschenden Systems gründet. Sie selbst tritt für eine Kombination aus beidem ein.

ORF.at/Simon HadlerChantal Mouffe - Widerstand darf Spaß machen

Aber gegen wen richtet sich ein Großteil des Aktivismus’ überhaupt - kann man ein klar definiertes Feindbild ausmachen? Bis vor zehn Jahren sei das nicht möglich gewesen, sagt Mouffe. Seit Beginn der Finanzkrise jedoch hätten viele Menschen trotz der Komplexität der globalisierten Welt das Finanzsystem und die Banken als Verursacher vieler ihrer Probleme ausgemacht. Heute würden die Staaten Banken retten und dafür bei Sozialausgaben sparen - dagegen gebe es berechtigten Protest, siehe „Occupy Walls Street“.

Mehr als ein Bobo-Ding

Die Anti-Konsum-Kultur, die vor allem von Künstlern ausging und sich immer weiter verbreitet, sei mehr als eine Modeerscheinung für Bobos. Urban Gardening und Radfahren etwa würden zu mehr Unabhängigkeit vom kapitalistischen System führen. Deshalb und aufgrund der postfordistischen Strukturen - neue Selbstständigkeit (freilich samt allen Zwängen der Scheinflexibilität) statt Fließbandarbeit - seien immer mehr Menschen der Meinung, dass sie das kapitalistische System, den Job beim Chef oder ein neues Auto nicht brauchen würden.

ORF.at/Simon HadlerDie Secondhandlandschaft des raumlaborberlin - inklusive Schlafkoje

TV-Hinweis

In „kultur.montag“ in ORF2 wird am Montagabend ab 22.30 Uhr ebenfalls über den steirischen herbst berichtet - mehr dazu in tv.ORF.at.

Die größte Sponti-WG Österreichs

Bei so viel Theorie und Kampfrhetorik sollte man meinen, ein Besuch beim steirischen herbst sei heuer anstrengend. Aber im Camp herrscht gute Stimmung. Die Vortragenden sind nach ihren Lectures in den gemütlichen, aus alten Möbeln hergestellten Sitzecken und -inseln anwesend und plaudern und diskutieren gerne mit Besuchern sowie Künstlern der Ausstellung im Festivalzentrum - die ebenfalls ständig an Ort und Stelle sind.

Im Camp wird auch Musik gemacht – und es gibt jeden Tag in der Früh Yoga-Einheiten. Wer zwischendurch trotzdem müde wird, für den gibt es sogar Schlafkojen. Die Künstlerin Ball übernachtet sogar in ihrem nur von Fenstern umgebenen Widerstandspflanzenlabor. Aber zu fürchten braucht sie sich nicht - Stichwort Chili-Rauchbombe und Kastanien-Geschoss. Eine Erkenntnis dieses steirischen herbstes ist definitiv: Künstlerinnen, Aktivistinnen und Theoretikerinnen sind wehrhaft.

Simon Hadler, ORF.at

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Publiziert am 24.09.2012

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Via: orf.at


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