Mit Locksprüchen dieser Art macht der Staatschef Werbung für die nahende Fußball-EM. Optische Bestätigung findet er auf der Kiewer Prachtstraße Chreschtschatik. Im Mai sind dort viele Röcke kurz, die meisten Absätze hoch.
Dann platzt die Bombe. Es ist 11.30 Uhr an diesem sonnigen Frühlingstag, als sich an der U-Bahn-Station Chreschtschatik Frauen in knallrosa Overalls auf einen „verdächtigen Gegenstand“ stürzen, wie sie später erklären. „Verlassen sie die Gefahrenzone!“, rufen sie. Doch die Passanten bleiben stehen. Denn aus dem Knäuel der rosa Retter windet sich eine barbusige Blondine heraus. „Sexbombe“, steht in schwarzer Schrift auf ihrer Brust. Die Kiewer Nacktprotest-Gruppe Femen hat zugeschlagen. „Wir legen die Lunte an die EM“, verkünden die Aktivistinnen.
Die 27-jährige Anna Huzol hat Femen 2008 gegründet. Seither sorgen die Kiewer Aktivistinnen mit Oben-ohne-Demonstrationen europaweit, anlässlich der EM aber vor allem in der Ukraine, für Furore. „Wir nehmen Janukowitsch beim Wort, um ihn vorzuführen“, sagt Huzol.
Häusliche Gewalt ist in der männerdominierten ukrainischen Gesellschaft weitverbreitet. Schlimmer noch: Zuhälter und Ehepartner zwingen nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen jährlich mehrere Zehntausend Frauen zur Prostitution, vor allem in den Städten. Wichtigster Markt ist Kiew. Huzol erwartet einen Sextourismus-Boom während der EM.
„Das sind Clowns, wie im Zirkus“, sagt Olena Zukerman über Femen. Die junge Frau Anfang 30 leitet die Hilfsorganisation LegaLife, die sich für die Rechte der etwa 180000 Prostituierten in der Ukraine einsetzt. Sie glaubt nicht an massenhaften Sextourismus während der EM. „Fans interessieren sich für Fußball“, erklärt sie. Von der WM in Deutschland 2006 seien die Bilder gelangweilter Bordelldamen in Erinnerung geblieben.
„Femen macht mit den Sextourismus-Warnungen Politik im Dienst einer Partei“, behauptet Zukerman. Belege dafür gibt es nicht. Allerding legt Femen seine Finanzierung nicht offen. Aber auch Zukerman schottet ihre Organisation LegaLife ab. Die Kontaktaufnahme ist nur über ihre Mutter möglich. Von wem eine Bedrohung ausgehen könnte, sagt Zukerman nicht, erklärt aber: „Das größte Problem ist die Polizei. Jede zehnte Sexarbeiterin ist 2009 von Milizionären misshandelt worden.“
Die ukrainischen Gesetze stellen Prostitution unter Strafe. Das gibt Polizisten die Möglichkeit, am Geschäft mit dem Sex zu mitverdienen. Wirtschaftliche Not spielt eine große Rolle bei der Prostitution in dem Land, in dem der Durchschnittslohn bei umgerechnet 250 Euro liegt.
Zukerman berichtet aus eigener Erfahrung, sie hat früher selbst als Prostituierte gearbeitet, um ihre Drogensucht zu finanzieren. Inzwischen ist sie clean und verbreitet eine Botschaft: „Sexarbeiterinnen sind keine Opfer. Sie haben ihre Würde. Und sie haben einen ganz normalen Beruf.“ Zukerman spricht lieber von Sexarbeit als von Prostitution. Das sei neutraler. „Fragen Sie Alla nach der Würde“, rät sie.
Der Weg zu Alla führt am Olympiastadion vorbei. Dort findet am 1. Juli das EM-Finale statt. In einer Seitenstraße hat soeben ein Nachtclub seine Pforten geöffnet. Für Alla wäre ein Job im „Dollhouse“ ein Traum gewesen. „Mein Arbeitsplatz war die Straße“, sagt die 55-Jährige, die am Rande von Kiew lebt. „20 Jahre lang habe ich dort draußen Geld verdient“, sagt Alla. Treffpunkt ist ein Vorstadt-Café im Souterrain eines Plattenbaus. Alla zieht das Halbdunkel vor. Schatten liegen unter ihren Augen. Das dünne blondierte Haar fällt in Wellen auf einen hohen Rollkragen mit Leopardenmuster. Sie beginnt zögerlich: „Offen gestanden hat es mir auf der Straße nicht gut gefallen. Manchmal gerät man in unangenehme Gesellschaft. Das war nicht immer schön, aber ich hatte fünf Kinder zu ernähren.“
Der Begriff Sexarbeit kommt ihr nicht über die schmalen Lippen. Alla spricht von „der Straße“. „Dort draußen zu stehen ist sehr gefährlich“, erzählt sie. Dann bricht es aus ihr heraus: „Schläge, Vergewaltigung, Mord – das gehört dazu“, sagt sie. „Meiner Freundin hat ein Freier mit einer aufgeschlagenen Flasche das Gesicht zerschlitzt. Ich hatte Glück, weil ich gut reden kann. Ich konnte mich immer herausreden.“
Wie also steht es um die Würde? Wie hält man ein solches Leben aus? „Ich habe getrunken. Wodka. Anders ist es nicht zu ertragen. Heute trinke ich nicht mehr“, erzählt Alla. Vom Vater ihrer fünf Kinder, der als Ernährer versagte, hat sie sich scheiden lassen. Alla lebt allein mit ihren Haustieren. „Das Hundefutter kann ich mir nicht leisten“, sagt sie und lächelt verlegen. „Von Zeit zu Zeit schaut noch immer einer der alten Freier vorbei.“
Auch die Kinder kommen zu Besuch. „Das war das Schwerste. Wie bringt man das seinen Kindern bei?“, fragt Alla und gibt sich selbst die Antwort: „Es hilft nur, die Wahrheit zu sagen. Als die Kinder wissen wollten, wo ich abends hingehe, habe ich ihnen alles erzählt. Es ist wie bei jeder ganz normalen Arbeit, die du nicht machen möchtest, die du aber machen musst.“ Alla schaut ihrem Gegenüber im Gespräch direkt in die Augen. Sie hat sich ihre Würde bewahrt.
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