Eine ganz normale Arbeit

Vor den Toren des Olympiastadions haben die barbusigen Femen-Aktivistinnen wieder mit einer Aktion zugeschlagen.imago

Im Mai blühen in Kiew Tausende Kastanien. Sie sind das Wahrzeichen der Stadt. "Wenn in Kiew die Kastanien blühen, lassen unsere Frauen ihre Hüllen fallen", sagt der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch. Mit Locksprüchen dieser Art macht der Staatschef Werbung für die nahende Fußball-EM. Optische Bestätigung findet er auf der Kiewer Prachtstraße Chreschtschatik. Im Mai sind dort viele Röcke kurz, die meisten Absätze hoch.

Doch dann platzt die Bombe. Es ist 11.30 Uhr an diesem sonnigen Frühlingstag, als sich an der U-Bahn-Station Chreschtschatik mehrere Frauen in knallrosa Overalls auf einen "verdächtigen Gegenstand" stürzen. "Verlassen sie die Gefahrenzone!", rufen sie den Passanten zu. Doch die Menschen bleiben stehen. Denn aus dem Knäuel der rosa Retter windet sich eine barbusige Blondine heraus. "Sexbombe", steht auf ihrer Brust. Die Kiewer Nacktprotest-Gruppe Femen hat zugeschlagen. "Wir legen die Lunte an die EM", verkünden die Aktivistinnen.

Femen-Chefin Anna Huzol meidet die Öffentlichkeit. Ihr Hauptquartier ist das Kellercafé "Kupidon". Auch dort, in der Puschkin-Straße, blühen im Mai die Kastanien. "Also lassen wir unsere Hüllen fallen", sagt Huzol. "Wir nehmen Janukowitsch beim Wort, um ihn vorzuführen." Die 27-Jährige hat Femen 2008 gegründet. Seither sorgen die Kiewer Aktivistinnen mit Oben-ohne-Demonstrationen für Furore.

Häusliche Gewalt ist in der Ukraine weit verbreitet. Schlimmer noch: Zuhälter und Ehepartner zwingen nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen jährlich mehrere Zehntausend Frauen zur Prostitution, vor allem in den Städten. Wichtigster Markt ist Kiew. "Wir erzeugen mit unseren Busen Aufmerksamkeit für dieses Thema, die wir sonst nie bekämen", sagt Huzol. Kontakt in die Prostituierten-Szene haben die Aktivistinnen aber kaum.

"Das sind Clowns, wie im Zirkus", sagt Olena Zukerman über Femen. Die junge Frau leitet die Hilfsorganisation LegaLife, die sich für die Rechte der etwa 180 000 Prostituierten in der Ukraine einsetzt. "Femen macht mit den Sextourismus-Warnungen Politik im Dienst einer Partei", behauptet Zukerman. Belege dafür gibt es nicht. Eine Spur führt zu BJUT, dem Block Julia Timoschenko. Anna Huzol bestreitet das. Einblick in die Finanzierung der Gruppe gewährt sie nicht. Auch Zukerman schottet LegaLife ab. Von wem eine Bedrohung ausgehen könnte, sagt sie nicht. Allerdings erklärt Zukerman: "Das größte Problem ist die Polizei. Jede zehnte Prostituierte ist im Jahr 2009 von Milizionären misshandelt worden."

Die Ukraine hat die höchste HIV-Rate in Europa

Die ukrainischen Gesetze stellen Prostitution unter Strafe. Das gibt Polizisten die Möglichkeit am Sex-Geschäft zu verdienen. Finanzielle Not spielt eine große Rolle bei der Prostitution im krisengeschüttelten Land, in dem der Durchschnittslohn bei umgerechnet 250 Euro liegt. Aids verschärft die Lage. Die Ukraine hat die höchste HIV-Rate in Europa. Rund 350 000 Menschen tragen das Virus in sich - fünf Mal so viele wie in Deutschland, und das bei einer etwa halb so großen Bevölkerung.

Zukerman berichtet aus Erfahrung. Sie arbeitete früher selbst als Prostituierte, um ihre Drogensucht zu finanzieren. Heute ist sie clean und hat vor allem eine Botschaft: "Sexarbeiterinnen sind keine Opfer. Sie haben ihre Würde. Und einen ganz normalen Beruf." Zukerman spricht lieber von Sexarbeit als von Prostitution. Das sei neutraler. "Fragen Sie Alla nach der Würde", rät sie.

"Mein Arbeitsplatz war die Straße", sagt die 55-jährige Alla, die am Rande von Kiew lebt. "20 Jahre lang habe ich dort draußen Geld verdient." Schatten liegen unter ihren Augen. Sie beginnt zögerlich: "Offen gestanden hat es mir auf der Straße nicht gefallen. Manchmal gerät man in unangenehme Gesellschaft. Aber ich hatte fünf Kinder zu ernähren."

Der Begriff Sexarbeit kommt ihr nicht über die schmalen Lippen. "Schläge, Vergewaltigung, Mord - das gehört auf der Straße dazu. Meiner Freundin hat ein Freier mit einer aufgeschlagenen Flasche das Gesicht zerschlitzt. Ich hatte Glück, ich konnte mich immer aus Gefahrensituationen herausreden."

Wie also steht es um die Würde? Wie hält man ein solches Leben aus? "Ich habe getrunken. Wodka. Anders ist es nicht zu ertragen. Heute trinke ich nicht mehr", erzählt Alla. Vom Vater ihrer fünf Kinder, der als Ernährer versagte, hat sie sich scheiden lassen. Alla lebt allein mit ihren Haustieren. "Das Hundefutter kann ich mir nicht leisten", sagt sie und lächelt verlegen. "Von Zeit zu Zeit schaut noch immer einer der alten Freier vorbei."

Auch die Kinder kommen zu Besuch. "Das war das Schwerste für mich. Wie bringt man das seinen Kindern bei?", fragt Alla und gibt selbst die Antwort: "Es hilft nur, die Wahrheit zu sagen. Als die Kinder wissen wollten, wo ich abends hingehe, habe ich ihnen alles erzählt. Es ist wie bei jeder ganz normalen Arbeit, die du nicht möchtest, aber machen musst." Alla schaut ihrem Gegenüber im Gespräch direkt in die Augen. Sie hat überlebt. Und sie hat ihre Würde bewahrt.

 

 

Via: svz.de


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