EURO 2012 in der Ukraine: Evolution statt Revolution

Vor der Fußball-EM gibt es Gegenwind - aus dem Volk und aus der EU

In der Ukraine wurde unter Wiktor Janukowitsch die Zeit zurückgedreht. Über die Angst des Präsidenten vor dem Elfmeter.

 

Hektisch rennen Arbeiter umher, Transparente und Bildschirme werden aufgestellt, Absperrungen eingerichtet. Schon in drei Wochen wird hier am Maidan, dem zentralen Platz in Kiew, die größte Fanmeile des Landes eröffnet werden. Nur ein paar hundert Meter weiter haben Anhänger von Julia Timoschenko eine kleine Zeltstadt vor jenem Gericht errichtet, das die frühere Ministerpräsidentin wegen Amtsmissbrauchs zu sieben Jahren Haft verurteilt hat. Seit Monaten demonstrieren sie täglich gegen das aus ihrer Sicht rein politisch motivierte Urteil. Mittlerweile gilt deren Freilassung noch vor der EURO als ausgeschlossen.

Ursprünglich wollten die ukrainischen Machthaber das Turnier nutzen, um ihr Image im Westen zu verbessern, doch seit den Boykottandrohungen aus einigen EU-Ländern passiert genau das Gegenteil. Die EURO sollte ein Fest werden, den Ukrainern selbst aber ist wenig zum Feiern zumute. Auf demselben Platz, wo im Juni Fans aus ganz Europa ihre Mannschaften anfeuern werden, verhinderten sie 2004, dass Wiktor Janu kowitsch Präsident wird. Jener Mann, der 2010 doch noch an die Macht kam und unter dem die Ukraine dabei ist, in ihre dunkle Vergangenheit vor der Orangen Revolution zurückzudriften. Langsam können die Ukrainer dabei zusehen, wie die Zeit zurückgedreht wird. Was war geschehen, dass es so weit kommen konnte?

Dass Janukowitsch überhaupt wieder an die Macht kam, lag nicht an seiner Popularität, sondern daran, dass die Menschen das Vertrauen in das orange Lager verloren hatten. Der frühere Gouverneur der Region Donetsk im Osten des Landes, wo die Verquickung der Politik mit den Oligarchen am größten ist, ist der erste "Minderheitspräsident" der Ukraine. In der Stichwahl mit der Revolutionsikone Julia Timoschenko bekam er 49 Prozent der Stimmen und lag doch knapp vorne - möglich durch eine Besonderheit im Wahlrecht, für keinen der beiden Kandidaten abzustimmen.

Was danach folgen sollte, damit rechneten damals selbst seine größten Kritiker nicht, zumindest nicht in dieser Geschwindigkeit und dieser Intensität. Zwei Monate nach der Wahl wurde auf gesetzes- und verfassungswidrige Weise eine neue Mehrheit im Parlament geschaffen und eine neue Regierung eingesetzt - der Anfang vom Ende der damaligen Ministerpräsidentin Timoschenko, die zuerst 2005 nach der Revolution und wieder von 2007 bis 2010 die Regierungsgeschäfte führte.

Oligarchisches Politsystem

Neue Verfassungsrichter wurden eingesetzt, unliebsame Richter abgesetzt oder eingeschüchtert. Dass der Verfassungsgerichtshof die neue Regierung als legal bewertete, kam danach wenig überraschend. Nur wenige Monate nach der Amtseinführung von Janukowitsch wirkte es so, als ob in der Ukraine nie eine Revolution stattgefunden hatte. "Die Geschichte dreht sich im Kreis", sagt Serhij Zhadan über die aktuelle Entwicklung im Gespräch mit dem Standard . Der 39-Jährige ist einer der wichtigsten ukrainischen Schriftsteller und war während der Proteste 2004 der so genannte "Kommandant" der Revolutionszeltstadt in Kharkiv im Osten des Landes. Heute wie damals ist er einer der schärfsten Kritiker des oligarchischen Politsystems. Seine Stimme hat vor allem bei vielen jungen Ukrainern Gewicht. "Die Obrigkeit versucht, die alten Mechanismen wieder einzuführen", sagt er während eines Spaziergangs durch seine Heimatstadt - die Enttäuschung über die vertane Chance nach der Revolution ist ihm anzuhören, auch wenn er betont, dass er für die Zukunft trotz allem optimistisch ist: "Die jungen Menschen in der Ukraine inter essieren sich für Politik. Sie wollen nicht mehr so weiterleben."

Viele Gründe für Optimismus gibt es in der Ukraine nicht. Im Fernsehen ist kaum noch Kritik an der Regierung zu hören. Der SBU, ukrainischer Sicherheitsdienst und Nachfolgeorganisation des sowjetischen KGB, dient wieder als Instrument zur Einschüchterung von Journalisten oder Universitätsrektoren. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass sich die Ukraine heute wieder in Richtung Polizeistaat entwickelt. Die Anwendung von selektiver Justiz bei der Verurteilung von politischen Gegnern und Oppositionellen war der Höhepunkt dieser Entwicklung.

"Die heutige Ukraine bietet reichhaltiges Lehrmaterial zum Thema ‚Die Brüchigkeit der Demokratie oder Wie man uns zurück in die Diktatur treibt‘", schrieb der bekannteste ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch schon 2010 in der FAZ, wo er einen Appell an die Gemeinschaft Europas richtete: "Beobachten Sie so aufmerksam wie nie zuvor, was diese ukrainische Regierung tut! Wer weiß, warum, aber noch ist es ihnen wichtig, was Sie denken." Es sollte ein Jahr dauern, bis die Europäische Union seinen Appell ernst nahm. Zuerst wurde im Herbst vergangenen Jahres das unterschriftsreife Assoziierungsabkommen auf Eis gelegt, das eine Annäherung der Ukraine an die EU bringen sollte. Nun, kurz vor der Fußball-Europameisterschaft, drohen immer mehr europäische Regierungen mit einem Boykott, sollten die Haftbedingungen für Timoschenko nicht gebessert werden.

Für die Akteure der ukrainischen Zivilgesellschaft ist es ein richtiger Schritt, der schon lange notwendig gewesen wäre. "Aber besser spät als nie", sagt Wikto rija Sjumar, Aufsichtsratsmitglied der ukrainischen Renaissance-Foundation, die von Milliardär und Philanthrop George Soros finanziert wird. Sie ist seit Jahren in der Zivilgesellschaft aktiv und ist Mitglied der SAM-Bewegung (On our Own Movement), einer Plattform, auf deren Basis Aktivisten verschiedener Gruppierungen für die Parlamentswahlen im Herbst kandidieren. "Wir kritisieren schon lange, dass die EU in diesem Bereich nicht aktiv genug war. Auch wenn es viele andere Probleme gibt, auf die Europa schauen sollte, ist es wichtig, dass jetzt etwas passiert, denn alles andere würde auf gewisse Art und Weise legitimieren, was die ukrainische Regierung tut."

Wichtig sei, zwischen Politikern und Bevölkerung zu unterscheiden. Tatsächlich haben Janukowitsch und seine Clique viel an Kredit bei den Ukrainern verspielt. Selbst im Osten des Landes, wo die Regierungspartei "Partei der Regionen" ihre traditionelle Machtbasis hat, verfügt sie bei den Menschen nur noch über wenig Rückhalt, wie aktuelle Umfragen zeigen. "Die ukrainische Regierung zu boykottieren heißt nicht, dass die Ukraine boykottiert wird", sagt die Bürgerrechtsak tivistin Svitlana Zalishchuk, die hofft, dass die Unterstützung der EU langfristig ist. Dass die Ukraine nur kurz im Fokus steht, befürchten in der Ukraine viele, die sich für eine demokratische Entwicklung einsetzen. Es wäre nicht das erste Mal, dass die EU-Staaten schnell wieder ignorieren, was in dem Land an der östlichen Grenze ihrer Union passiert.

Im Jahr 2004, nach der Revolution, wäre es schlicht undenkbar gewesen, dass der Wahlfälscher Janukowitsch noch einmal für das Präsidentenamt kandidieren könnte. Was lief falsch? "Die Orange Revolution war in Wirklichkeit gar keine echte Revolution. Hier haben sich nur die Gesichter der Politiker verändert", sagt Zhadan, während er zu einer kleinen Kapelle im Zentrum von Kharkiv führt. Es ist ein privates Gotteshaus, daneben steht eine protzige Villa, bewacht von einem militärisch gekleideten Mann, der sein Gesicht mit einer schwarzen Überziehhaube verdeckt. In seinen Händen hält er ein Maschinengewehr. Es ist ein surreales Bild, das Zhadan ein Lächeln abringt. "Die ukrainische Mafia", sagt er und geht weiter, ohne das Thema zu vertiefen. Das Bild steht für sich.

Die Ernüchterung kam bald

Lieber spricht er darüber, dass die Ukraine dringend eine Linkspartei braucht - "die einzige Ideologie, die die aktuellen Parteien haben, ist Geld". Zhadan ist leger gekleidet, Umhängetasche, T-Shirt, Sneakers - jugendlich trotz seiner 39 Jahre. Wie ein Revolutionsanführer wirkt er nicht. Doch hier, im Osten der Ukraine, war er einer der zentralen Figuren der Proteste. Nach der Revolution, erinnert er sich heute, hätte es eine richtige Euphorie gegeben. "Wir haben viel gefeiert, aber die Revolution war nur der Anfang, wir hätten weitermachen müssen."

Die Ernüchterung kam bald: Die Führungsfiguren des orangen Lagers, Juschtschenko und die damalige Revolutionsikone Timoschenko, rieben sich schon kurz nach der Regierungsübernahme in selbstmörderischen Machtkämpfen auf. Trotz allem hatte sich in den Monaten und Jahren nach der Revolution einiges in der Ukraine zum Besseren gewendet, vor allem im Bereich der Bürgerrechte.

Unter dem Regime von Juschtschenko-Vorgänger Leonid Kutschma (1994-2004) entwickelte sich das junge Land immer stärker zu einem diktatorisch geführten Staat, in dem jede Opposition unterdrückt wurde und unliebsame Journalisten ermordet wurden. Juschtschenko galt vielen Ukrainern nach den dunklen Kutschma-Jahren als Hoffnungsträger , und tatsächlich sah es anfänglich danach aus, als sei nun eine neue Ära angebrochen. Wahlen wurden nach demokratischen Regeln abgehalten, die Medien konnten frei berichten - doch die alles zersetzende Korruption und die Macht der Oligarchen konnten oder wollten die orangen Kräfte genauso wenig bekämpfen wie das anachronistische System, das von der Sowjetunion vererbt wurde.

Der Aufbau eines Rechtsstaates, der seinen Namen auch verdient, wurde nie in Angriff genommen. "In Wirklichkeit kann man das, was in der Ukraine im zweiten Jahr nach der Revolution passiert ist, als perfektes Remake der Vergangenheit bezeichnen", schreibt Andruchowytsch in seinem Essay-Buch Engel und Dämonen der Peripherie.

Warum sind die Ukrainer nicht wieder auf die Straßen gegangen, als alles begann, aus dem Ruder zu laufen? Eine Frage, mit denen die Menschen, die sich 2004 auflehnten, ständig konfrontiert werden. Bei den Antworten klingt immer Frustration durch, auch bei Zhadan: "Es gab keine neuen Ideen, keine neuen Gesichter mehr. Für wen hätten wir auf die Straße gehen sollen und kämpfen? Für die, die alles verraten haben?"

Wenn man eine Revolution als einen fundamentalen Wechsel von politischen Institutionen, sozialen Strukturen und Regierungspolitik sieht, dann muss man die Orange Revolution tatsächlich als Misserfolg ansehen. Aber völlig gescheitert ist sie nicht, auch wenn das paradox klingt. Ihr Erbe wirke bis heute nach, ist der Bürgerrechtsaktivist Oleh Rybachuk überzeugt: "In den Köpfen der Politiker ist der Maidan-Albtraum ein ständiger Faktor, den sie niemals vergessen."

Der 54-Jährige war unter Jusch tschenko zuerst Vizepremierminister für Europäische Integration und danach dessen Kabinettschef. Nur ein Jahr nach der Revolution verließ er die Politik. Heute leitet er die Kampagne "Novyi Hromadianyn" (Neuer Bürger), eine parteifreie Bürgerplattform, die verschiedene Zivilgesellschaftsgruppen vereint. Warum stieg er aus der Politik aus? "Wenn ich in der Ukraine eine politische Position einnehme, dann werde ich zum Teil eines korrupten Systems", sagt er, "und dann muss man auch die Regeln akzeptieren."

Rybachuk galt als einer der wenigen unbestechlichen Politiker. Seit seinem Ausstieg aus dem Politgeschäft kämpft er für die Etablierung demokratischer Werte in der Ukraine - auch für Oppositionelle ein ungewöhnlicher Lebenslauf. "Die Machthaber und die Opposition sind Shareholder derselben ‚Firma‘, es ist ein sich selbst erhaltendes System." Dass er all das überhaupt offen aussprechen kann, sei eine Folge der Revolution. Absolute Kontrolle und Zensur wie unter Kutchma gäbe es heute nicht mehr. "Ich kann den Präsidenten einen Idioten nennen und die Regierung kritisieren. Die Aktivisten haben keine Angst mehr, ich fürchte mich nicht. 2004 hat alles begonnen, und es wird nie wieder so sein wie vorher, auch wenn die Entwicklung länger dauert. Aber wir hatten in der Ukraine eine so stark verankerte Sowjetmentalität, so ein System kann man nicht von heute auf morgen ändern."

Erst mit der Revolution entstand in der Ukraine eine breite zivilgesellschaftliche Bewegung. "Die Revolution hatte großen Einfluss auf die Entwicklung einer Protestkultur, die es in der Ukraine vorher nicht gab", sagt der junge Schriftsteller Anton Koushnir. Mit seinen 28 Jahren gehört er zu jener Generation, die 2004 das Fundament des Aufstands bildeten. Er selbst war einer von vielen Studenten, die wochenlang in den eisig kalten Zelten am Kiewer Maidan ausharrten. "Ohne die Revolution gäbe es heute die vielen Grassroot-Organisationen nicht, die sich in verschiedenen Bereichen engagieren."

Als nach der Präsidentschaftswahl 2010 die Zensurbestrebungen der Regierung wieder stärker wurden, bildete sich schon nach kurzer Zeit eine Gegenbewegung namens "Stop Zensur", getragen von Journalisten und Bürgerrechtsaktivisten des Landes. Svitlana Zalishchuk war Mitinitiatorin. Die 29-Jährige leitet derzeit die Kampagne "Chesno", ein Monitoringpogramm, das alle Par lamentsabgeordneten nach bestimmten Kriterien durchleuchtet. Die Ergebnisse werden vor der Parlamentswahl im Herbst online zugänglich gemacht. Trotz ihrer jungen Jahre ist Zalishchuk eine der aktivsten Figuren der ukrainischen Zivilgesellschaft. "Die Revolution", sagt sie, "war ein Auslöser dafür, dass die ukrainische Gesellschaft ‚europäischer‘ und moderner wurde und dass die Ansprüche der Ukrainer an die Regierung höher wurden." Dass man das System mit einer Revolution auf einen Schlag verändern könne, diese Hoffnung hat sie aufgegeben: "Wir versuchen heute, Veränderung mit Evolution statt Revolution zu erreichen. Es braucht Bürger, denen demokratische Werte wichtig sind, die sich am politischen Prozess beteiligen. Eine Regierung ist auch immer ein Spiegel der Gesellschaft."

Die Politiker, die seit der Unabhängigkeit 1991 an der Spitze des Staates standen, auch die "Revolutionshelden", sind alle in der Sowjetunion aufgewachsen und sozialisiert worden. In die Politik kamen sie in den 1990er-Jahren, als das alte System fast nahtlos weitergeführt wurde. Derzeit befindet sich die Ukraine in einem seltsamen Zwischenstatus: Die alten Gesichter der Politik werden bei Wahlen nicht mehr gewinnen können, sofern diese demokratisch ablaufen. Die neue Politikergeneration, die sie ablösen könnte, ist bisher noch nicht in Erscheinung getreten. Svitlana Zalishchuk bemüht eine alte Redewendung als Antwort auf die Frage, wie die Ukraine in ein paar Jahren aussehen wird: "Es heißt, eine Gesellschaft bekommt immer jene Regierung, die sie verdient. In ein paar Jahren werden wir uns hoffentlich eine bessere Führung verdient haben."

Dass die Fußball-Europameisterschaft viel ändern wird, daran glaubt der Schriftsteller Zhadan nicht: "Die Ukraine ist ein paradoxes Land mit vielen Problemen. Es wäre naiv zu glauben, dass Europa diese Probleme lösen kann. Das muss hier passieren, und das tut es auch." Nachsatz: "Außerdem interessieren sich Fußballfans nicht für Politik."

In seiner Tasche hat er ein Ticket für ein Europa-League-Match "seines" Klubs Metalist Charkiv, der dem lokalen Oligarchen Oleksandr Yaroslavsky gehört. "Viele Brasilianer, nur ein Ukrainer, und der steht im Tor", sagt er mit einem Lächeln im Gesicht, kurz bevor er sich auf den Weg zur Probe seiner Ska-Punk-Band Sobaki v Kosmosi (Hunde im Kosmos) macht, mit der er seit einigen Jahren seine Gedichte performt. In der Ukraine wurde Zhadan in den frühen 1990ern zuerst als Lyriker bekannt. In seinen Gedichtbänden wie in seinem Prosawerk skizziert er das Lebensgefühl einer Generation, die den Zusammenbruch der Sowjetunion erlebte, als ihr Erwachsenenleben begann. Er ist ein Chronist einer Generation, deren Zukunft im Ungewissen lag - und liegt. Bevor er im Gewusel der geschäftigen Kharkiver Pushkinskaja-Straße verschwindet, beantwortet er eine unausweichliche Frage: Wie wird es weitergehen in seiner paradoxen Ukraine? "Es wird eine soziale Revolution geben. Die derzeitigen Machthaber sind völlig inadäquat und korrupt. Politik ist für sie nur ein Geschäft, sie werden nicht lange bleiben."(DER STANDARD, ALBUM, 19.5.2012)

Via: derstandard.at


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