Filmfestspiele Venedig – Machen wir, was Victor sagt

So ist das also: Hinter den Femen-Frauen von Kiew steckt ein Mann. Besser gesagt ein dummer Junge, der sich vor der Interviewkamera von Kitty Greens Dokumentarfilm „Ukraine is not a Brothel“ zunächst hinter einer selbstgebastelten Hasenmaske versteckt. Victor heißt der Strippenzieher, der per Skype den jungen Frauen im Befehlston die Einsatzorte durchgibt und den Wortlaut ihrer Körper-Graffitis.

Ein Patriarch, der gegen das Patriarchat agitieren lässt? Solche Widersprüche, meint er, gebe es ja viele. Und benennt dann, nach langem Überlegen, als Kronzeugen Karl Marx: Der habe doch auch als Bourgeois der Bourgeoisie den Krieg erklärt. Die interviewten Femen-Frauen sehen das ganz ähnlich. Selbst Kinder der Gesellschaft, die sie kritisieren, könnten sie halt nicht anders: „Wir tun, was Victor sagt“.

Alles ist echt

Man traute Auge nicht noch Ohr zum Ende des 70. Festivals am Lido. Ist das vielleicht ein Stück perfide Propaganda aus dem ukrainischen Staatsfernsehen? Oder eine täuschend echte Femen-„Mockumentary“ in eigener Regie, um den Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen?

„Alles ist echt“, versichert uns eine bekannte italienische Presseagentin, die den Film betreut. Und es sind ja auch nirgendwo Femen-Frauen in Sicht – wie noch zur Berlinale – um gegen das Festival zu protestieren. Eine Frauenquote von zehn Prozent im Wettbewerb wäre ja vielleicht ein Grund.

Dafür treffen wir, recht ausgelassen, die Protagonistinnen, geschmückt mit Plastik-Blumenkränzen. Auch ein Vater kommt im Film zu Wort, ihm ist das Engagement der Tochter hochnotpeinlich, doch er liebt sie trotzdem: „Sie würden Ihr Kind doch genauso lieben, wenn ihm ein Bein fehlte. Meiner Tochter fehlt eben leider das Gehirn.“

Was für ein Dokumentarfilm-Coup zum Ende dieses Festivals! Was ihm jetzt noch fehlt, ist ein perfekter Sieger für den Samstagabend. Einen originelleren Film als Philip Grönings kunstvolles Missbrauchsdrama „Die Frau des Polizisten“ hatte es zwar nicht zu bieten, aber für den Goldenen Löwen ist er der von Bertolucci geleiteten Jury, der auch die deutsche Schauspielerin Martina Gedeck angehört, vielleicht zu experimentell.

Eine neue Formensprache

Dem phantastischen Genre erschloss Regisseur Jonathan Glazer mit Hauptdarstellerin Scarlett Johansson in „Under the Skin“ eine neue Formensprache. Doch mit Fantasy gewinnt man selten Preise, selbst wenn mit solchem Realismus einerseits und andererseits mit derart subtiler Überhöhung gearbeitet wird. Und wie wäre es mit Hayao Miyazakis hochemotionalem Flugzeugbauer-Epos „The Wind Rises“? Es ist ein wichtiger Vorstoß, weg vom Kinderfilm – aber wohl trotzdem chancenlos.

Bliebe noch der Umfragen-Favorit, Stephen Frears’ englischer Beitrag „Phenomena“. Es ist eine verfilmte Spurensuche des bekannten britischen Journalisten Martin Sixsmith, gespielt von Steve Coogan, der auch das Drehbuch schrieb. 2009 sorgte er mit seinem Buch „The Lost Child of Phenomena Lee“ für Aufsehen über eine der vielen Grausamkeiten hinter britischen Klostermauern – die gewaltsame Trennung einer jungen Mutter von ihrem Kind.

Judy Denchs Darstellung dieser Frau, die das Unrecht anprangert aber auch die Güte einzelner Schwestern anerkennt, ist herzergreifend. Es waren eben doch nicht alle Schwestern „unbarmherzig“ wie in Peter Mullens Löwengewinnerfilm von 2002. Die Filmkunst bringt dieser im besten Sinne konventionelle Publikumsfilm zwar kein bisschen weiter, aber einen besseren Film hat Stephen Frears jedenfalls seit langem nicht gedreht.

Die Suche nach der Wahrheit ist auch das Thema zweier amerikanischer Dokumentarfilme, ihre schillernden Protagonisten sind überführte Lügner. Alex Gibney („Wikileaks: We Steel Secrets“) hat sich einen unveröffentlichten Porträtfilm über Lance Armstrong noch einmal vorgenommen.

Nun, da dieser Weltmeister des Dopings geständig ist, erscheinen die alten Bilder vom Comeback 2009 erwartbar schal, und seine neuerlichen Beteuerungen, damals wenigstens sei er sauber gewesen, zweifelhaft. Neues aber erfährt man nicht in diesem Film, der sich immerhin Tempo und Ausdauer des Radsportlers zum Vorbild nimmt und damit durchaus unterhaltsam über den (Material-)berg kommt.

Hautnahe Aufnahmetechnik

Eine andere Klasse ist Errol Morris’ Porträtfilm über Ex-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, „The Uknown Known“. Das Wortspiel des Titels stammt aus einem Rechtfertigungs-Poem, das Rumsfeld oft und gerne rezitiert, hier zur Erinnerung in einer Übersetzung Arno Widmanns:

„Es gibt bekanntes Bekanntes; es gibt Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie wissen. Wir wissen auch, dass es bekannte Unbekannte gibt: Das heißt, wir wissen, es gibt Dinge, die wir nicht wissen. Aber es gibt auch unbekannte Unbekannte – Dinge also, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen.“

Morris benutzt die selbe hautnahe Aufnahmetechnik wie bei seinem McNamara-Porträt „The Fog of War“, wieder illustrieren Animationen Kriegsstatistiken, die pathetische minimal music stammt dieses Mal von Danny Elfman. Nur der Protagonist gibt es nicht her.

Rumsfeld ist eine erschreckend eindimensionale Figur, wenn er sich in selbstentlarvende Wortspiele flüchtet, die Morris in Breitwandbildern illustriert: Ein Ozean aus hunderttausenden von Memos, die der Kontrollfreak Rumsfeld im Pentagon verschickte.

Alles, was Morris diesmal entlarven kann, ist das bekannte Bekannte: Rumsfeld als narzisstischer Verkäufer von Halbinformation. Und auch wenn ihn Morris ab und an aufs Glatteis führt: Die andere Hälfte will sich auch in diesem virtuosen Film- essay nicht zeigen.

Via: fr-online.de


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