„Frauen hört man nicht zu, Frauen will man nur anschauen“

 

 

 

 

Dieser Artikel ist eine Kostprobe aus der Juli-Ausgabe des Cicero, die Sie in unserem Online-Shop erwerben können.

Wenn Inna Schewtschenko an der U-Bahn-Station Barbès-Rochechouart aussteigt, folgen ihr sämtliche Blicke. Munter hüpft sie die Treppen herunter, aber ihr Gesicht ist ernst, fast finster. In der Öffentlichkeit, erst recht auf Fotos ist für Femen Lachen streng verboten! Oben rauschen die Metrozüge auf der Hochbahn weiter, unten am Ausgang der Station teilt sich die Gruppe Schwarzafrikaner für die junge Frau mit der blonden Mähne. Sie starren ihr nach, auch wegen der makellosen langen Beine in den roten Shorts. Sie tut, als nehme sie niemanden zur Kenntnis. Den Blick aufs Pflaster geheftet, rennt sie den Boulevard Barbès hinauf, biegt in die Rue Myrha. Als sie vor wenigen Monaten nach Paris kam, glaubte sie, in eine andere Welt zu kommen. Aber auch hier pfeifen ihr die Kerle hinterher, machen sie an, versuchen, sie zu begrapschen.

„In der Ukraine behandelt man Frauen, zumal junge, so und noch viel schlimmer“, sagt Schewtschenko. „Ukrainische Mädchen sind arm, ungebildet und sehr schön. Für Menschenhändler, Zuhälter gelten sie als extrem billige Arbeitskräfte, mit denen sich eine Menge Geld verdienen lässt. Jede Minute verschwindet ein Mädchen.“ Deswegen kämpften die Femen in der Ukraine anfangs gegen Sextourismus, Prostitution und Mädchenhandel.

Doch Schewtschenkos Biografie scheint allem, was sie ihrer Heimat vorwirft, zu widersprechen. Sie stammt aus Hirsson, einem kleinen Ort im Süden der Ukraine, nahe der Krim. Sie hat ein Universitätsstudium (Journalistik) absolviert, bekam danach sofort eine Stelle. In Frankreich, im Westen, wo sie glaubte, alles sei ganz anders, erlebt sie keinen Tag, an dem sie nicht genauso wie in Kiew belästigt wird. So lautet die Schlussfolgerung der 22-Jährigen: Frauen sind nirgendwo frei, sie werden von drei Feinden bedroht – Diktaturen, der Religion und der Sexindustrie. Eine Revolution müsse her, erstmals eine von Frauen angezettelte. Schewtschenkos Arbeitsweg führt sie durch Paris’ afrikanisch-arabische Viertel. Friseur- und Kosmetikläden für die schwarze Kundin, der Goldhändler, die Reisebüros, die Schlachter, die Lamm- und Hammelfleisch feilbieten, Gemüseläden mit Süßkartoffeln, vor allem aber die Erdnussverkäufer, die auf dem engen Bürgersteig in Blechtonnen Nüsse rösten. Der Kontrast könnte kaum größer sein: Die blonde Schönheit eilt im Sturmschritt vorbei an gemütlich schwatzenden Afrikanern vor den Teestuben. Endstation Rue Léon.

Vor einem Szenetheater wartet eine Gruppe Frauen. Erstmals hellt sich Innas Gesicht auf. Sie schließt die Stahltür auf, drinnen umarmen sich die Frauen, Küsschen rechts, links, Lachen. Sie stürmen die Holztreppe zum ersten Stock hinauf. Hier ist ihr Reich! Ein 20 Meter langer Raum mit niedriger Decke. Trainingssaal und Versammlungsraum. Innas Arbeitsplatz. „Femen – New Feminism“, „Femen is the ideology of sextremism“, „No sharia“ steht an den Wänden. Dazu lebensgroße Zeichnungen von barbusigen Frauen mit Blumenkränzen auf den Köpfen und bemalten Oberkörpern: „No religion“, „No dictatorship“. Eindeutig Porträts der Frauen, die hier gleich schwitzen werden. Eine Mittdreißigerin, höchstens 1,55 Meter groß, vom Handrücken bis zu den Schulterblättern tätowiert, kurzer Bürstenhaarschnitt, harte Züge. Ganz anders die sanfte Sarah mit den pinkfarbenen Lippen im runden Schneewittchengesicht, der ihr langes dunkles Haar glatt über die Schultern fällt. Ihr hat die Zeichnerin ein Schild in die Hände gemalt, auf dem „Not A Sex Toy“ steht. Sarahs ebenmäßige Schönheit gäbe eine gute Vorlage für eine Barbie-Puppe ab, eben jenes Spielzeug, das ihre deutschen Kampfgenossinnen aus den Kinderzimmern verbannt wissen möchten.

Die 20 Frauen traben im Laufschritt. Zehn Runden. Alle hören auf Inna: „Liegestütze! Erst mal zehn, 100 heute insgesamt! Sit-ups! One, two, three … Ab zehn zählen sie französisch weiter, kichern: onze, douze, treize. 100 Mal – sofort – die Fäuste auf und zu. Ende des Warm-ups. Aufstellung in Doppelreihe. Jede nimmt ihre Gegenüber Huckepack, macht 20 breitbeinige Kniebeugen. Wechsel. Schweres Schnaufen.

Dann treten sie einzeln vor die Gruppe, mit Plakat über dem Kopf. „Fuck your morals“, ruft die erste. „Free Amina“, fallen die anderen ein. Die Übung: Doppel-Slogans. „Go undressed and win – Pop no more.“ Schreien strengt die Stimmbänder an, alle husten. Weiter: 20 Mal „Pop no more – basta Berlusconi“, dann: „Pop no more – in gay we trust.“ Geübt wird, bis der Chor klappt, wirklich alle mit einer Stimme rufen, keine nachklappt, sonst kommt die Botschaft stümperhaft rüber. Sie haben nur Sekunden. Wenn überhaupt. Den Petersdom im Vatikan durften sie nicht einmal betreten. Der Sicherheitsdienst griff sie draußen auf dem Platz ab. Da hatte noch keine ein Plakat gezückt oder die Jacke abgeworfen. Schewtschenko ist überzeugt, dass ihre Fotos auf informellen Fahndungslisten europäischer Sicherheitsdienste kursieren. Deswegen wird jede geplante Aktion in größter Konspiration vorbereitet. Enge Kontakte zu Fotografen sind unabdingbar, aber auch sie werden erst unmittelbar vor der Aktion informiert. Denn immer noch sind mehr Vorhaben zu Ende, bevor sie überhaupt losgingen. Jede Femen-Aktion verstehen die Frauen deswegen auch als einen Demokratietest.

Nächste Aufgabe: Attacke in Kleinstbesetzung. Vier Frauen bilden eine Gruppe, stürmen die „Öffentlichkeit“. Sie sprechen sich kurz ab, aber wer fängt an? Auch das will gekonnt sein: Gemeinsam loslegen, gemeinsam enden. „Nudity is freedom – topless Dschihad“, „Dschihad“, klappert eine hinterher. Es klingt dünn und dämlich, so einzeln. Sie schlägt die Hand vor den Mund. Schewtschenko muss nichts erklären. Noch mal. „Nudity is freedom – topless Dschihad“, jetzt sitzt der Chor, doch die Übung ist noch nicht geschafft. Alle anderen gehen auf die vier los, stoppen sie mit Gewalt, bis die nicht mehr schreien und sich nicht mehr rühren. Eine Aktivistin läuft davon. „Ganz falsch! Wenn du rennst, wirst du abgedrängt, bist getrennt von den anderen, erledigt. Wirf dich zu Boden und jetzt zappeln, was das Zeug hält, damit sie dich nicht zu fassen kriegen. Und schreien. Nie aufhören mit Schreien“, mahnt Schewtschenko. Mehrere Femen stürzen sich auf jeweils eine Aktivistin, versuchen sie in die Zange zu nehmen, zur Ruhe zu bringen. Wenn das trotz ihrer Überzahl erst nach einiger Zeit gelingt, lobt Inna: „Well done!“

Die Trainings-Femen sind bekleidet. Mit ihren „Firmen-Shirts“, ärmellosen Tops mit dem „Femen“-Aufdruck in Bauchnabelhöhe. Die Frauen haben keinerlei Berührungsängste. Die in der Regel männlichen Sicherheitsleute ihrer „targets“, wie sie die attackierten Politiker nennen, dagegen haben deutliche Hemmungen, die Aktivistinnen zu packen, wenn die halbnackt sind, passen auf, nicht versehentlich die Brüste zu berühren. Femen-Vorteil. Bis die Bodyguards ihre Jackets ausgezogen und über die Frauen geworfen haben, vergehen weitere wertvolle Sekunden, ziehen die Aktivistinnen noch mehr Aufmerksamkeit auf sich. Vor diesen Handgreiflichkeiten haben die Frauen allerdings Angst, denn häufig werden sie brutal geschlagen, sobald die Kameras nicht mehr klicken. Schewtschenko hat bei einer Aktion einen Zahn eingebüßt (der längst ersetzt ist). „In dem Moment spürst du nichts, denn dein Körper ist überflutet mit Adrenalin. Aber am nächsten Tag, wenn du deine blauen Flecken zählst, kapierst du, wie hart sie zugegriffen haben.“

 

Via: cicero.de


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