Kiew: „Verlassen Sie die Gefahrenzone!“

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09. Mai 2012

EM-Spielstätten

BZ-SERIE ZU EM-SPIELSTäTTEN (TEIL 4):Prostitution in Kiew, der Stadt des EM-Endspiels, das ist ein Kampf um die Würde und das nackte Überleben.


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  2. Kiews Hauptstraße Chreschtschatik Foto: (c) AP

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Im Mai blühen in Kiew Tausende Kastanien. Sie sind das Wahrzeichen der Stadt. "Die Bäume stehen voller Kerzen, rosagelbe Federbusch-Knallbonbons", schrieb vor 100 Jahren der Dichter Osip Mandelstam. Viktor Janukowitsch drückt sich prosaischer aus. "Wenn in Kiew die Kastanien blühen, lassen unsere Frauen ihre Hüllen fallen", sagt der ukrainische Präsident im Frühjahr bei einem Besuch in der Schweiz. Mit Locksprüchen dieser Art macht der Staatschef Werbung für die nahende Fußballeuropameisterschaft. Optische Bestätigung findet er auf der Kiewer Prachtstraße Chreschtschatik. Im Mai sind dort viele Röcke kurz, die meisten Absätze hoch. Doch dann platzt die Bombe.

Es ist 11.30 Uhr an diesem sonnigen Frühlingstag, als sich an der U-Bahn-Station Chreschtschatik mehrere Frauen in knallrosa Overalls auf einen verdächtigen Gegenstand stürzen, wie sie später erklären. "Verlassen sie die Gefahrenzone!", rufen sie den Passanten zu. Doch die Menschen bleiben stehen. Denn aus dem Knäuel der rosa Retter windet sich eine barbusige Blondine heraus. "Sexbombe", steht in schwarzer Schrift auf ihrer Brust. Die Kiewer Nacktprotest-Gruppe Femen hat wieder zugeschlagen. "Wir legen die Lunte an die Europameisterschaft", verkünden die Aktivistinnen. Polizisten beenden das Schauspiel mit Gewalt.

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Femen-Sprecherin Anna Huzol meidet das grelle Licht der Öffentlichkeit. Ihr Hauptquartier ist das Kellercafé Kupidon. Auch dort, in der Puschkin-Straße, blühen im Mai die Kastanien. "Also lassen wir unsere Hüllen fallen", sagt Huzol. "Wir nehmen Janukowitsch beim Wort, um ihn vorzuführen." Die 27-Jährige hat Femen 2008 gegründet. Seither sorgen die Kiewer Aktivistinnen mit Oben-ohne-Demonstrationen europaweit für Furore. Zuletzt prangte beim Weltwirtschaftsforum in Davos der Schriftzug "Gangster-Party" auf den Femen-Busen.

"Nackt erzeugen wir Aufmerksamkeit, die wir sonst nie bekämen", sagt Huzol und zündet sich eine Zigarette an, die kaum größer ist als ein Zahnstocher. Das Tabakstäbchen ist ebenso auffällig wie die rote Pagenfrisur, die mit dem ukrainischen Modeideal kollidiert. Lang und blond sollen Haare demnach sein, das weiß auch Huzol. Sie hat kein gutes Bild von den Frauen in ihrer Heimat. "Hier herrscht ein archaisches Konkurrenzdenken im Kampf um Männer. Unsere Frauen wollen vor allem vorteilhaft heiraten, auch wenn sie am Ende darunter leiden."

Häusliche Gewalt ist in der männerdominierten ukrainischen Gesellschaft weit verbreitet. Schlimmer noch: Zuhälter und Ehepartner zwingen nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen jährlich mehrere zehntausend Frauen zur Prostitution, vor allem in den Städten. Wichtigster Markt ist Kiew. "Während der EM wird das Geschäft drastisch zunehmen. Die Sexindustrie rüstet auf", sagt Huzol. Es ist nicht mehr als eine Behauptung. Kontakt in die Szene haben die Aktivistinnen kaum.

"Das sind Clowns, wie im Zirkus", sagt Olena Zukerman über Femen. Die junge Frau Anfang 30 leitet die Hilfsorganisation LegaLife, die sich für die Rechte der etwa 180 000 Prostituierten in der Ukraine einsetzt. Sie glaubt nicht an massenhaften Sextourismus während der EM. "Fans interessieren sich für Fußball", erklärt sie. Von der Weltmeisterschaft in Deutschland 2006 sind die Bilder gelangweilter Bordelldamen in Erinnerung geblieben. Während sich die Fans den Spielen und den bierseligen Feiern danach hingaben, blieben die Rotlichtbezirke leer. "Femen macht mit den Sextourismus-Warnungen Politik im Dienst einer Partei", behauptet Zukerman. Belege dafür gibt es nicht.

Eine Spur führt zu BJUT, dem Block Julia Timoschenko. Anna Huzol bestreitet das. Einblick in die Finanzierung der Gruppe gewährt sie jedoch nicht. Auch Zukerman schottet LegaLife gegen zu viel Interesse von der falschen Seite ab. Die Kontaktaufnahme ist zunächst nur per E-Mail möglich. Dann ruft ihre Mutter zurück, um den Fragesteller zu prüfen. Von wem eine Bedrohung ausgehen könnte, sagt sie nicht. Im Gespräch allerdings erklärt die Tochter: "Das größte Problem ist die Polizei. Jede zehnte Prostituierte ist im Jahr 2009 von Milizionären misshandelt worden."

Die ukrainischen Gesetze stellen Prostitution unter Strafe. Das gibt Polizisten die Möglichkeit, am Geschäft mit dem Sex zu verdienen. Wirtschaftliche Not spielt oft eine Rolle bei der Prostitution in dem krisengeschüttelten Land, in dem der Durchschnittslohn bei umgerechnet 250 Euro liegt. Aids verschärft die Lage. Die Ukraine hat die höchste HIV-Ansteckungsrate in Europa. Rund 350 000 Menschen tragen das Virus in sich – fünf Mal so viele wie in Deutschland, und das bei einer nur gut halb so großen Bevölkerung.

Zukerman berichtet aus Erfahrung. Sie hat früher selbst als Prostituierte gearbeitet, um ihre Drogensucht zu finanzieren. Inzwischen ist sie clean und hat vor allem eine Botschaft: "Sexarbeiterinnen sind keine Opfer. Sie haben ihre Würde. Und sie haben einen ganz normalen Beruf." Zukerman spricht lieber von Sexarbeit als von Prostitution. Das sei neutraler. "Fragen Sie Alla nach der Würde", rät sie.

Der Weg zu Alla führt am Olympiastadion vorbei. In der Kiewer Arena findet am 1. Juli das Finale der Fußballeuropameisterschaft statt. In einer Seitenstraße hat soeben ein Nachtclub seine Pforten geöffnet. Für Alla wäre ein Job im "Dollhouse" ein Traum gewesen. "Mein Arbeitsplatz war die Straße", sagt die 55-Jährige, die in einer Plattenbausiedlung am Rande von Kiew lebt. Wer den staubigen Schlaglochpisten nach Süden folgt, erreicht bald die Ausfallstraße nach Odessa. "20 Jahre lang habe ich dort draußen Geld verdient", sagt Alla, die ihren Nachnamen nicht veröffentlicht sehen möchte. Treffpunkt ist ein Vorstadtcafé im Souterrain eines Plattenbaus. Alla zieht das Halbdunkel vor. Schatten liegen unter ihren Augen. Das dünne blondierte Haar fällt in Wellen auf einen hohen Rollkragen mit Leopardenmuster. Sie beginnt ihre Erzählung zögerlich: "Offen gestanden hat es mir auf der Straße nicht gut gefallen. Es gibt bei den Freiern solche und solche. Manchmal gerät man in unangenehme Gesellschaft. Aber sie haben bezahlt, und ich hatte fünf Kinder zu ernähren." Der Begriff Sexarbeit kommt ihr nicht über die schmalen Lippen. Alla spricht von "der Straße". Der Kaffee belebt sie. "Dort draußen zu stehen, ist sehr gefährlich. Ich habe Dinge gesehen, die ich nicht habe sehen wollen", erzählt sie.

Dann bricht es aus ihr heraus: "Schläge, Vergewaltigung, Mord – das gehört auf der Straße dazu. Meiner Freundin hat ein Freier mit einer aufgeschlagenen Flasche das Gesicht zerschlitzt. Über eine andere Frau sind sie zu zehnt hergefallen und haben sie stundenlang vergewaltigt. Ich selbst hatte Glück, weil ich gut reden kann. Ich konnte mich immer irgendwie herausreden." Wie also steht es um die Würde? Wie hält man ein solches Leben aus? "Ich habe angefangen zu trinken. Wodka. Anders ist es nicht zu ertragen. Ich habe viel getrunken, sehr viel. Heute trinke ich nicht mehr", erzählt Alla. Vom Vater ihrer fünf Kinder, der als Ernährer versagte, hat sie sich scheiden lassen. Ihr zweiter Mann ist vor einem Jahr gestorben.

Alla lebt allein mit ihren Haustieren. "Das Hundefutter kann ich mir nicht leisten", sagt sie und lächelt verlegen. "Von Zeit zu Zeit schaut noch immer einer der alten Freier vorbei." Auch die Kinder kommen zu Besuch. "Das war das Schwerste für mich. Wie bringt man das seinen Kindern bei?", fragt Alla und gibt sich selbst die Antwort: "Es hilft nur, die Wahrheit zu sagen. Als die Kinder wissen wollten, wo ich abends hingehe, habe ich ihnen alles erzählt. Es ist wie bei jeder ganz normalen Arbeit, die du nicht machen möchtest, die du aber machen musst."

Alla schaut ihrem Gegenüber direkt in die Augen. Sie hat überlebt, und sie hat ihre Würde bewahrt. Der Weg vom Stadtrand zurück ins Zentrum führt vorbei an unzähligen Kastanien. Irgendwo hier unter den "rosagelben Federbusch-Knallbonbons" der Blüten hat Osip Mandelstam seine Frau Nadeschda kennengelernt. Doch die Romantik war das eine. Die Härten des Lebens kannte der Dichter auch. Und so nannte er Kiew schlicht "die zählebigste Stadt der Ukraine".

Autor: Ulrich Krökel

Via: badische-zeitung.de


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