Leibchen runter, Leibchen rauf

Leibchen runter, Leibchen rauf

Wer die schrillen Protestaktionen der barbusigen Amazonen verstehen will, muss die Verhältnisse in ihrem Mutterland, der Ukraine, kennen. Ein Schweizer Dokfilmer begleitete die schrillen Aktivistinnen.

Leibchen rauf, Leibchen runter: Femen-Protest gegen Berlusconi in Mailand. (24. Februar 2013)

Leibchen rauf, Leibchen runter: Femen-Protest gegen Berlusconi in Mailand. (24. Februar 2013)
Bild: Reuters

Trailer zum Femen-Dokfilm

Hat Femen mit der Kamera begleitet: Der Schweizer Filmemacher Alain Margot.

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Als die Werksleitung am 26. April 1986 in Tschernobyl einen Stromausfall simuliert, sind die späteren Aktivistinnen der ukrainischen Feministengruppe Femen im rund 400 Kilometer entfernten Städtchen Chmelnizky im Wiegenalter. Die Situation im AKW eskaliert, wird zur grössten Atomkatastrophe der Geschichte.

25 Jahre später: Der Schweizer Filmemacher Alain Margot sitzt in einem Bus, unweit der 30-Kilometer-Sperrzone von Tschernobyl. Er ist nervös. Sascha Schewtschenko, Yana Zhdanova und Inna Schewtschenko bereiten sich auf die Protestaktion vor. Sie nesteln an Blumenkränzen, probieren Gasmasken an und flechten sich Bänder in die blonden Haare. Plötzlich taucht eine Militärpatrouille auf. Die Männer sind wütend, nehmen die Gruppe fest. Der Chauffeur, der sie eigentlich in die verbotene Zone hätte schmuggeln sollen, hat sie verraten. Man bringt sie auf eine Polizeistation. Die Frauen werden nicht aus den Augen gelassen. Dürfen nur unter Aufsicht auf die Toilette. Gegen eine «Gebühr» werden sie wieder freigelassen – und finden einen anderen Fahrer, der sie in das gesperrte Gebiet bringt. Die Zeit drängt. Beim zweiten Anlauf geht alles glatt. Unbemerkt passieren sie die Absperrung. Die Sonne scheint. In kurzen Lederhöschen und überlangen Stiefeln posieren die Frauen. Halten Plakate mit Brustabdrücken und Totenköpfen in den blauen Himmel. Ein Fotograf macht ein paar Bilder. Margot filmt. (Lesen Sie auch: «Ich kann meine Wut nur durch Sexualisierung ausdrücken»)

Die Aktivistinnen sind in einer Stadt mit 300'000 Bewohnern und zwei Atomreaktoren aufgewachsen. Die Angst vor der Strahlung begleitet sie durch ihre Jugend. Es wird geschwiegen in der Ukraine nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Geschwiegen über die alkoholkranken Männer, über die verprügelten Mütter und über die Radioaktivität. Deshalb sei die Aktion in Tschernobyl so wichtig für die Frauen, sagt Margot. Für ihn selbst sei es ein Schlüsselmoment gewesen, der Beginn einer Komplizenschaft. Sie lieben seine Art zu filmen, er bewundert sie. Margot beschliesst, die Frauen in einer Dokumentation zu porträtieren. Über eine Crowdsourcing-Plattform sammeln sie Geld für das Projekt. Die Mittel sind bald beschafft. Femen hat viele Freunde im Netz. Oksana wollte früher ins Kloster. Heute malt sie biblische Ikonen, um ihre Aktionen mit Femen zu finanzieren. Dabei wird sie selbst zu einer Art Ikone der Pressefotografie. Sie ist die Hauptfigur des Filmes, der voraussichtlich diesen Sommer am Filmfestival Locarno Premiere feiern wird.

Schön und leicht zu haben

Wer die schrillen Protestaktionen der barbusigen Amazonen verstehen will, sollte die Verhältnisse in ihrem Herkunftsland kennen. Das Bild der ukrainischen Frau ist reich an Klischees: schön, arm, leicht zu haben (Lesen Sie auch: «Frauenjagd im Osten»). Anders als im westlichen Europa, wo feministische Fragen seit Jahrzehnten Teil der öffentlichen Debatte sind, gelten in der Ukraine andere Ideale. Das Lebensziel vieler Ukrainerinnen sei es, einen Ehemann zu finden, am besten einen Ausländer, kritisiert Alexandra Schewtschenko in einem Interview mit der «Zeit».

Sie hätten weder einen Beruf noch eine Berufung. Die Revolution fehle. Deshalb hätten sie 2008 die Gruppe Femen gegründet. Sie verkörpern weder die autoritäre «Sowjetfrau», die einen unförmigen Mantel trägt und von allen nur «Tante» genannt wird, noch die Katalogbraut aus dem Osten. Sie sind Politaktivistinnen und ihre Waffen sind ihre Brüste. Damit wollen sie nichts weniger, als das System der Herrschenden zu stürzen.

Leibchen hoch, Leibchen runter

Nacktheit bringt Aufmerksamkeit und Aufmerksamkeit ist Macht. So lautet die erste Regel von Femen. Kritiker werfen den Frauen vor, sich durch ihre Aktionen selbst zum Sexobjekt zu machen. Die ukrainische Schriftstellerin Oxana Sabuschko hält die Proteste für naiv, weil sie sich darauf beschränkten, nur Brüste zu zeigen. Diese Brüste, die auch auf Milliarden von Plakatwänden in allen Variationen zu sehen sind, will sich Femen zurückerobern. (Lesen Sie auch: «Weg mit den plakativen XL-Brüsten») Sie sozusagen reinwaschen und mit politischem Inhalt bemalen. Weibliche Genitalverstümmelung, Berlusconi und Strauss-Kahn oder Korruption – die Palette von Motiven ist vielfältig. Die Praxis bleibt dieselbe: Leibchen hoch, Leibchen runter. Das rund um den Globus. Was in Europa höchstens zu einem Platzverweis führt, kann in der Ukraine zu schwerwiegenden Konsequenzen führen.

Mit Benzin übergossen und liegengelassen

Am 19. September 2011 demonstrieren Femen-Aktivistinnen mit angeklebten Bärten im Büro des KGB in Minsk gegen den weissrussischen Staatschef. Als sie kurz darauf den Zug zurück besteigen wollen, werden sie von drei Männern abgeführt. Sie verbinden ihnen die Augen und führen sie zu einem Wagen. Fahren mit ihnen 320 Kilometer weit in die entfernte Region Gomel. An einem abgelegenen Ort im Wald werden die Frauen ausgeladen. Die Beamten, welche laut Vermutungen von Femen dem KGB angehören, misshandeln sie. Reissen ihnen die Kleider vom Körper. Einer holt einen Kanister aus dem Auto und übergiesst sie mit Benzin. Die Männer drohen damit, sie umzubringen. Verprügeln sie. Dann schneiden sie ihnen die Haare ab und fahren davon.

Freunde und Verwandte versuchen telefonisch die drei Aktivistinnen zu erreichen – vergeblich. Rund einen Tag später beschreibt Sascha Shewtschenko auf Facebook die Details der Entführung, die ein grosses internationales Echo auslöst. Der Strafbestand wurde bis heute nicht genauer untersucht.

Trotz ihrer zahlreichen Aktionen werden die «Medienstars» Femen erst mit der Fussball-Europameisterschaft im letzten Jahr geboren. Seither haben sich unzählige Ableger auf allen Kontinenten gebildet. Jüngstes Beispiel: Femen Deutschland, deren Mitglieder auf dem roten Teppich der Berlinale demonstrierten. Längst ist es der Ursprungsgruppe nicht mehr möglich, mit allen Untergruppen im engen Kontakt zu stehen. Das ist aber auch nicht nötig. Wenn es nach den Gründungsmitgliedern geht, dann genügt es 2017, genau hundert Jahre nach dem Untergang des russischen Zarenreichs, die Parole auszurufen: Femen aller Länder vereinigt euch.

Was halten Sie von den Protesten von Femen? Diskutieren Sie hier mit. (DerBund.ch/Newsnet)

Erstellt: 25.02.2013, 20:32 Uhr


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