Olena, die junge Verkäuferin an der Tankstelle, zieht ein langes Gesicht: "Ob ich mich auf die EM freue? Mein Gehalt wird davon auch nicht steigen. Und wenn viele Gäste kommen, gibt es immer nur Probleme", sagt die Ukrainerin, die höchstens 200 Euro pro Monat verdient.Die Ukraine ist in einer Krise. Es gibt wenig. Selbst das Fußballfest ist überschattet von Korruptionsvorwürfen und politischen Auseinandersetzungen, die wegen der Inhaftierung der Oppositionsführerin Julia Timoschenko sogar zur Debatte führten, ob EU-Politiker die Spiele boykottieren sollten.
Das hatte vor fünf Jahren noch anders ausgesehen. Damals hatten Polen und die Ukraine mit ihrer gemeinsamen Bewerbung um die EM (auf Ukrainisch "Jewro", also Euro, genannt) den Zuschlag erhalten. Kurz nach der friedlichen Orangenen Revolution von 2004, die eine Westwendung des Landes einleitete, wurde das Projekt EM als Ermutigung gesehen: für eine junge Demokratie, die den Anschluss an Europa sucht. Auch der historische erste WM-Auftritt der "Sbirna", der Nationalelf, 2006 in Deutschland hat zur Staatswerdung der fußballbegeisterten Ukraine beigetragen, die jetzt erstmals an einer EM teilnimmt.
Wie steht die Ukraine heute da? Bei der "Hardware" sieht es nicht schlecht aus, der Stadienbau verlief schneller als in Polen. Von den vier Austragungsorten hatte Donezk im Osten die Nase vorn: Dort hatte der reichste Ukrainer und Präsident des örtlichen Fußballklubs, der Oligarch Rinat Achmetow, die Donbass-Arena aus eigenen Mitteln bereits 2009 fertiggestellt. Es war dasselbe Jahr, als sein Klub Schachtar Donezk gegen Werder Bremen den Uefa-Cup gewann. 320 Millionen Euro hat das Stadion gekostet. Der Oligarch, dessen Vermögen auf mindestens 12,8 Milliarden Euro geschätzt wird, ist der ungekrönte König des Donbass, des Ruhrgebiets der Ukraine. Er ist dem aus der Region stammenden Staatspräsidenten Viktor Janukowitsch eng verbunden.
In Charkow sind die Zahlen bescheidener. Hier spielt der Oligarch Oleksandr Jaroslawskyj die erste Geige. Er ist in der Rangliste des Kiewer Magazins "Korrespondent" die Nummer zwölf unter den vermögenden Ukrainern. In Charkow wurde das Stadion von Jaroslawskyjs Fußballklub Metalist modernisiert. 60 Millionen Euro soll dies gekostet haben. Der kleinste Austragungsort ist Lemberg (Lwiw). Hier kostete das neue Stadion etwa 220 Millionen Euro. Das ist wenig gegen das Stadion der Hauptstadt Kiew, in dem am 1. Juli das Finale stattfinden wird. Es wurde für mindestens 480 Millionen Euro aus der Staatskasse umgebaut. Der Umbau, an dem viele deutsche Firmen beteiligt waren, kann sich sehen lassen: Hunderte Pumpen saugen überschüssige Feuchtigkeit aus dem Rasen, die VIP-Loge ist mit eigenem Präsidentenfahrstuhl und kugelsicheren Scheiben ausgestattet. Federführend war das Hamburger Architekturbüro Gerkan, Marg und Partner.
Doch es wurden nicht nur Stadien neu- oder umgebaut, Flughäfen wurden um neue Terminals erweitert, Straßen saniert, neue Hotels eröffnet. Eine der zuständigen Behörden bezifferte die Gesamtausgaben für die EM zwischen 2008 und 2011 auf umgerechnet etwa 11,7 Milliarden Euro. Und man muss davon ausgehen, dass es dabei nicht immer ganz sauber zuging. Vizepremier Borys Kolesnikow war federführend - und profitierte offensichtlich nicht schlecht davon. Ein Gesetz aus dem Jahr 2010 erlaubt es, wegen der knappen Zeit EM-relevante Projekte ohne die üblichen Ausschreibungsbedingungen zu starten. Hinter manchen der Firmen, die große Aufträge bekamen, etwa hinter der Altkom-Firmengruppe, stecke, so Oppositionspolitiker Wolodymyr Arjew, kein anderer als Kolesnikow. Der Politiker ist auf der Liste der reichsten Ukrainer die Nummer 28.
Schwieriger sieht es mit der organisatorischen "Software" aus. Die private Hotellerie und überhaupt die Privatwirtschaft hatte, da die Ukraine ihr 1989 erst 2004 erlebte, nur wenige Jahre, sich zu entfalten. Studenten in den EM-Städten mussten ihre Wohnheime vorzeitig räumen, damit diese für Fußballfans saniert werden konnten. Einige Hotels nutzen die Gunst der Stunde und fordern unverschämte Preise. Ob die versprochene schnelle Grenzabfertigung auf der "Euro-Spur" funktioniert, ist noch ungewiss. Bislang ist die Grenze für die Ukrainer ein Symbol der Ungerechtigkeit. Das Land schaffte 2005 für EU-Bürger die Visumpflicht ab, doch Ukrainer müssen zur Einreise in die EU ein Visum beantragen. Visumverweigerungen sorgen immer wieder für böses Blut. Etwa bei der bekannten Schriftstellerin Irena Karpa, die jetzt in Kiew öffentlichkeitswirksam klagte, die deutschen Behörden behandelten Ukrainer wie "Untermenschen". 2011 hat die deutsche Botschaft 111.490 Visumanträge erhalten, davon wurden 5832 abgelehnt. "Die strengen Visumvorschriften und Pannen wie bei Irina Karpa erschweren unsere Kulturarbeit und den Dialog zwischen den Ländern enorm", sagt Vera Bagaliantz, Leiterin des Goethe-Instituts in Kiew.
Am wütendsten machen die Ukrainer jedoch die Verhältnisse im eigenen Land. Julia Timoschenko und weitere Oppositionspolitiker wurden in politisch motivierten Prozessen unter anderem wegen "Amtsmissbrauchs" zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt. Zudem brachte in dieser Woche der regierungsnahe Abgeordnete Serhij Kiwalow, der 2004 als Chef der Wahlkommission mitverantwortlich für Wahlfälschungen war, ein Gesetz durchs Parlament, das die russische Sprache im Land aufwerten soll. Dafür und dagegen wurde heftig demonstriert, selbst im Plenarsaal schlugen Abgeordnete aufeinander ein. Im Vergleich zu den prügelwütigen Parlamentariern geht da sogar die Polizei sensibel vor, zumindest wenn sie die Nacktaktivistinnen der Gruppe Femen festnimmt. Die Feministinnen haben mehrfach gegen die EM protestiert: "Sie wird den Sextourismus in der Ukraine vorantreiben und die Frauen hierzulande weiter erniedrigen", sagt Femen-Organisatorin Anna Huzol.
In Dnjepropetrowsk, der Heimatstadt Timoschenkos, explodierten sechs Wochen vor Anpfiff der EM vier Bomben, 31 Menschen wurden verletzt, in der vergangenen Woche wurden vier Tatverdächtige festgenommen. Doch Polens Innenminister Jacek Cichocki ist fest davon überzeugt, dass die ukrainischen Behörden in der Lage sein werden, Ordnung und Sicherheit zu gewährleisten. Die grenzübergreifende Zusammenarbeit klappe sehr gut, sagt Cichocki: "Per Videoverbindung können Warschau und Kiew jetzt in Echtzeit miteinander kommunizieren."
Via: welt.de
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