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Protest einer „Femen“-Aktivistin in Kiew während der Fußball-EM im Juli
Es ist einer dieser Abende unten am Fluss. Von früh bis spät hat die Herbstsonne auf die Hühnerhändler und die Taxifahrer am Kontraktowa-Platz geschienen, dem alten Kiewer Viehmarkt. Von den goldenen Klöstern auf der Wladimirhöhe glänzen die letzten Strahlen herunter und Ihor Luzenko hat sich auf die Granitstufen vor dem „Hostinnij Dwir“ gesetzt, dem „Gastlichen Hof“.
Der „Podil“, die Kiewer Unterstadt mit ihren Märkten und Kleinbürgerhäusern, ist ganz anders als das schillernde Zentrum oben auf den Hügeln mit seinen Boulevards und Sushi-Bars, vor denen hochhackige Blondinen aus Bentleys steigen. Hier unten sind die Autos beulig und die Absätze flach, und wer Freunde trifft, nimmt Bier und Dörrfisch auf Zeitungspapier.
Der „Gastliche Hof“ ist ein besonderer Platz, und Ihor Luzenko, in Turnschuhen, 33 Jahre alt und Chef der Bürgerinitiative „Rettet das alte Kiew“, erzählt, warum. Zu Zarenzeiten vom Italiener Luigi Rusca entworfen, beherbergte das klassizistische Arkadenkarree mit weitem Innenhof lange den wichtigsten Markt der Stadt. Schuhmacher, Krämer, Tuchhändler breiteten hier ihre Ware aus, und auf dem nahen Dnjepr ging es dann weiter, flussauf nach Russland oder flussab ans Schwarze Meer.
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Ein Denkmal in Gefahr: Das ehemalige Marktgebäude in der Kiewer Unterstadt haben Oppositionelle besetzt
Neuerdings ist der „Gastliche Hof“ auch in politischer Hinsicht ein besonderer Ort: Die Macht des autoritären Präsidenten Viktor Janukowitsch findet hier ihre Grenze. Luzenko erzählt: Im Sommer 2011, zu der Zeit als das Regime die Oppositionsführerin Julija Timoschenko ins Gefängnis warf, strich das Kabinett den „Gastlichen Hof“ plötzlich von der Denkmalliste, und ein privater Entwickler schickte sich an, das alte Ensemble in eine jener ewig gleichen Einkaufspassagen zu verwandeln, die heute die Markenzeichen der ukrainischen Oligarchen-Ökonomie sind .Bald hatte die Presse das Geheimnis dieses überraschenden Denkmalsturms gelüftet: Der Entwickler, eine Firma namens „Ukr-Restawrazja“, verfügt offenbar über exzellente „Verbindungen“ zu Janukowitschs Kanzlei sowie zum Umkreis seiner immer reicher werdenden Familie. Die Kanzlei und das Unternehmen haben Fragen dieser Zeitung zu diesem Thema nicht beantwortet, aber Luzenko ist überzeugt, dass „Ukr-Restawrazja“ den „Leuten des Präsidenten“ gehöre.
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Seit Mai besetzen die Oppositionellen um Ihor Luzenko nun das ehemalige Marktgebäude, das kurz vor dem Abriss stand.
Das alles wäre nichts Neues in der Ukraine, wenn nicht Ende Mai etwas Verblüffendes geschehen wäre: Als die Bagger anrückten, fanden sie die Einfahrt von jungen Leuten blockiert - mit Hilfe eines Autos übrigens, das Ihor Luzenko von seiner Mutter geliehen hatte. Die Geschichte der „Gastlichen Republik“ begann, der ersten oligarchenfreien Zone Kiews. Sie behauptet sich bis heute, und selbst ein Kommando stiernackiger Boxertypen, die gleich nach der Besetzung auftauchten, um kurzen Prozess zu machen, konnte das nicht ändern. Die Männer, erzählt Luzenko, liefen fort, als die Besetzer die Miliz holten und es kurzzeitig (und fälschlicherweise) so aussah, als sei der Oberboxer festgenommen worden.
Ist das die neue Opposition?
Heute ist die „Gastliche Republik“ Ausdruck eines neuen Widerstandes in der Ukraine. Die Besetzer und ihre Netzwerke versuchen, die Lähmung zu überwinden, die nach dem Fehlschlag der demokratischen „Revolution in Orange“ von 2004 und nach dem Scheitern ihrer zerstrittenen Führer die Opposition befallen hat. Die Idole der Revolution nämlich sind heute beinahe ebenso diskreditiert wie Präsident Janukowitsch selbst. Julija Timoschenko etwa schlägt seit ihrem giftigen Intrigenkrieg gegen ihren seinerzeitigen Partner Viktor Juschtschenko zähes Misstrauen entgegen. Der zwielichtige Stil ihrer Inszenierung, von den Porsche-Kavalkaden bis zum gefärbten Gold ihres berühmten Haarkranzes, hat dazu beigetragen, dass sie in Umfragen noch schlechter abschneidet als Janukowitsch. Ihre autokratischen Führungsmethoden und ihre Nähe zu obskuren Milliardären haben die Erinnerung an die Revolution beschädigt.
In weiten Kreisen der Opposition gilt die Erhebung von 2004 heute als Massenspektakel ohne Tiefe, die auf Führer und Parolen orientiert war statt auf demokratische Willensbildung. Viele, die damals auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz den Kopf hinhielten, haben heute das bittere Gefühl, dass sie damals in Wahrheit nicht „das Volk“ waren, sondern Stimmvieh auf dem Weg zur Dosenfutterfabrik. Timoschenkos - offenbar politisch motivierte - Verurteilung zu sieben Jahren Strafkolonie hat ihr ebenso wenig Glaubwürdigkeit zurückgewinnen können wie ihre Erkrankung im Gefängnis. Die Schriftstellerin Oksana Sabuschko etwa sagt, selbst eine Meldung über Timoschenkos Tod würde sie erst glauben, wenn sie „ihren kalten Körper fühlen könnte“.
„Janukowitsch, Timoschenko - immer das Gleiche“
Weil die Führer diskreditiert sind, arbeitet die neue Opposition bewusst ohne Stars und Hierarchien, und der besetzte Innenhof der „Gastlichen Republik“ ist einer der Plätze, an denen die Fäden zusammenlaufen: Altstadtschützer treffen auf Umweltgruppen, Künstler auf Verteidiger der ukrainischen Sprache. Es gibt Filme, Diskussionen, Sprachkurse. Die gnadenlosen Rechercheure der Internetzeitung „Ukrainska Prawda“ halten Kontakt (Luzenko selbst hat eine Zeitlang zu ihnen gehört), aber auch die Bürgerinitiative „Tschesno“ (“Ehrlich“), die vor der Parlamentswahl am 28. Oktober alle Kandidaten durchleuchtet.
Gerade baut im Innenhof „Raydo“ seine Bühne auf, ein Ad-hoc-Ensemble unter der Führung von Jurij Suschko, einem ergrauten Theatermann mit der gestenreichen Körpersprache des alten Komödianten. Es gibt Tschechow, „Der Heiratsantrag“, und das Ensemble ist bunt gemischt: Alexander spielt mit, ein junger Bankenjurist, Mikola, Physikstudent mit randloser Brille, sowie Olga, eine Literaturlehrerin von 28 Jahren und Trägerin einer struppigen Kunstfellweste über einem T-Shirt mit knallbunten Tattoo-Motiven, die sich scharf von der eigentümlichen Strenge ihres Blicks abheben. Ist das die neue Opposition? - Alle nicken. „Janukowitsch, Timoschenko - immer das Gleiche“, sagt Jurij, der Theaterchef, und Olga fügt ernst hinzu: „Denen könnte ich mich nie anschließen.“
Es gibt aber noch eine andere Art von Opposition in Kiew, ebenso berühmt wie Julija Timoschenko und ebenso umstritten. Sie hat ihren Sitz oben am Berg, neben dem von Stalin zerstörten, 1999 aber wieder aufgebauten Michaelskloster. Ihre Tür ziert ein Busenpaar, modelliert in Gelb und Blau, den Nationalfarben der Ukraine.
Das Motto von Femen: „Brüste statt Bomben“
Wer das Büro von „Femen“ betritt, dem bekanntesten Oberkörper-Sturmtrupp der Welt, glaubt sich ins Standquartier einer Grenadierkompanie versetzt. Nicht nur, dass überall Sportgerät herumsteht, Matten, Sprossenwände, Boxhandschuhe - auch der Wandschmuck gleicht dem einer Rekrutenstube. Mädchen in Hochglanz gedruckt, jung, aufreizend, dicht an dicht - und natürlich nackt -, ein kollektives Pin-up-Selbstporträt der Aktivistinnen von Femen, die mit ihren textilfreien Protesten längst die Boulevardblätter der Welt stürmen.
Alexandra Schewtschenko, eine der vier Gründerinnen, empfängt allerdings bekleidet, angetan mit einer Phantasieuniform samt hautenger Camouflage-Hose und goldbetressten Schulterstücken. „Wir lernen zu kämpfen“, sagt sie nach einem Blick in den martialischen Trainingsraum. „Man muss stark sein, wenn man Avantgarde sein will.“ Seit der Gründung vor vier Jahren hat Femen Weltruhm erlangt: „Brüste statt Bomben“, das Motto der Gruppe, ist ein durchschlagender Erfolg.
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Alexandra Schewtschenko ist eine der Femen-Gründerinnen: „Wir lernen zu kämpfen“
Websites rund um die Welt multiplizieren die Nackt-Auftritte dieser Frauen, wahlweise gegen Prostitution, gegen den Geheimdienst oder auch gegen den russischen Präsidenten Putin (“Wir machen es nicht mit Zwergen“). Für „Frauenrechte“ entblößen sie sich vor der Hagia Sophia in Istanbul und am Petersplatz in Rom. Zuletzt haben sie zur Unterstützung der wegen Kirchenschändung verurteilten russischen Punk-Aktivistinnen von „Pussy Riot“ barbusig und mit Kettensäge ein Kreuz über dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz gefällt.
Effektvolle Festnahmen vervollständigten dabei jedes Mal das Bild der verlockenden Märtyrerin, und im „Hauptquartier“, wie Alexandra Schewtschenko den Vereinssitz nennt, markieren Sticker in einer Wandkarte die Schauplätze ihrer Offensiven von Malta bis Murmansk. Eine selbstgemalte Ikone zeigt eine Aktivistin mit Heiligenschein und ukrainischem Folklore-Blumenkranz - und natürlich mit bloßer Brust.
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Protest von „Femen“-Aktivistinnen Anfang Oktober im Pariser Louvre
Bei der unabhängigen Opposition kommt das nicht gut an. Hier ist nicht Happening und Personenkult angesagt, sondern Arbeit. Bürgerinitiativen wie „Tschesno“ wollen nicht Karrieren lancieren, sondern durch minutiöse Überprüfung aller Kandidaten vor der Parlamentswahl Orientierung geben. „Wir arbeiten hart und professionell“, sagt etwa Oleh Ribatschuk, der Kopf von „Tschesno“, und wenn bei einem Abgeordneten, ob regimenah, ob oppositionell, Zeichen von Unehrlichkeit auftauchten, kenne man keine Gnade. Man achte auf Transparenz, und man halte Verbindung zu anderen Netzwerken - zu den Journalisten, die unter dem Namen „Stop Zensuri“ die Gleichschaltung der Presse anprangern, oder zu den Wahlbeobachtern von „Opora“ und dem „Wählerkomitee der Ukraine“, die Tausende von Freiwilligen auf den Wahltag vorbereiten.
„Die Revolution war eine Lüge“
Aus der Sicht dieser „arbeitenden Opposition“ scheint Femen nur die Fehler zu wiederholen, die schon Timoschenko geschadet haben. Der fast bolschewistisch aggressive Gestus dieser kleinen Gruppe, ihr Akzent auf Sensation und Parolen, der sexuell und folkloristisch unterlegte Ego-Trip dieser strippenden Heiligen wird unten am Fluss als Weiterführung der längst gescheiterten Revolutions-Show gelesen - der verfehlten Selbstinszenierung Timoschenkos als heilige Johanna und luxuriöse Märtyrerin auf dem Laufsteg. Auch die Finanzierungsmethoden von Femen vertragen sich nicht mit dem Ethos der neuen Oppositionellen.
Im März hat sich die Gruppe nach Presseberichten ausgerechnet von einem Unterwäsche-Hersteller zu einem Auftritt in Istanbul einladen lassen, und übers Internet verkauft sie „Boob-Prints“, also Busenabdrücke, ausgewählter Aktivistinnen für 70 Euro. Das kommt schlecht an. Zu sehr verdeckten die Brüste die Botschaft und dass die jüngste Kreuzfällung ausgerechnet ein Denkmal für Opfer der Stalinschen Repressionen traf, hat den Ruf von Femen abermals beschädigt. In Kiew glauben seither viele, dass die Gruppe wissentlich oder unwissentlich dem Regime dient. Die Urteile reichen von „nützliche Idioten“ bis „Agents provocateurs“, wie Ribatschuk es nennt. „Sie diskreditieren die unabhängige Opposition“, meint auch Sergej Leschtschenko, von „Stop Zensuri“. „Keiner wird demonstrieren, wenn man sie festnimmt.“
Unten im „Gastlichen Hof“ macht Olga, die Frau mit dem ernsten Blick, gerade ihrer Ensemblekollegin Milla die Haare zurecht. Tschechows „Heiratsantrag“ ist eine bittere Komödie, es geht um Männer und Frauen, und natürlich auch um alles, was zwischen Männern und Frauen so passieren kann. Trotzdem würden diese Frauen die Bühne nie zur Peep-Show machen. „Dezent“ wird hier gespielt, „unschuldig“, ohne exhibitionistische Sensationen.
Es geht um die Botschaft, es geht um gute Arbeit. Die „Gastliche Republik“ muss gegen die Oligarchen verteidigt werden, und das geht nicht mit Gags. Als sie zwanzig war, im Winter 2004, war Olga bei der Revolution mit dabei. Sie hat gesehen, wie Julija Timoschenko im Jubel badete, Pelz, Perlen, Parolen im Flutlicht, und in den Jahren danach hat sie erlebt, wie alles den Bach hinunterging. „Die Revolution war eine Lüge“, sagt sie heute. Und Femen, das Kampfstripperkommando oben am Berg? Olga zieht die strengen Brauen noch strenger zusammen. „Die Bluse ausziehen, das ist billig.“
Quelle: F.A.Z.
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Proteste in Kiew: Gegen Lügen und nackte Brüste
Ukraine
Gegen Lügen und nackte Brüste
Von Konrad Schuller, Kiew
In Kiew hat eine Opposition aus Künstlern und Bürgerinitiativen in einem besetzten Haus die „gastliche Republik“ ausgerufen. Die Regierungskritiker sind enttäuscht von Julija Timoschenko und können mit den barbusigen Aktionen der Gruppe „Femen“ nichts anfangen.
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