Autokraten wie Alexander Lukaschenko oder Mohammed Mursi ist er ein Dorn im Auge. Für politische Aktivisten von Teheran über Minsk bis Istanbul ist er der Guru des gewaltfreien Widerstands. Der frühere serbische Studentenführer Srdja Popovic, 40, ist derzeit der weltweit gefragteste Trainer für gewaltfreien Regimewechsel. Sein Belgrader "Zentrum für angewandte gewaltlose Aktion und Strategien" (Canvas) bildet "Umstürzler" aus. Die Zeitschrift "Foreign Policy" hatte Popovic 2011 als einen der wichtigsten globalen Vordenker bezeichnet.
Die Welt: Wir verspeisen gerade eines der wichtigsten Mittel des gewaltlosen Widerstands.
Srdja Popovic: Kuchen ist eine mächtige Waffe. Viel mächtiger als Gewehre. Und Menschen zu umarmen ist wirksamer, als mit Steinen auf sie zu werfen. Es ist ein großes Dilemma für Polizisten und Soldaten, wenn Demonstranten ihnen Kuchen anbieten. Es ist leichter, jemanden zu verprügeln, der mit Steinen nach einem wirft, als jemanden, der einem Kuchen gibt.
Die Welt: Frei nach Gandhi: Wenn du im Recht bist, kannst du dir leisten, die Ruhe zu bewahren; und wenn du im Unrecht bist, kannst du dir nicht leisten, sie zu verlieren.
Popovic: Ganz genau. Sehen Sie sich nur in diesem Garten um. 40, 50 Leute sitzen hier. Und es gibt bestimmt 50 Themen, zu denen jeder eine andere Meinung hat, und trotzdem schlagen wir uns nicht die Köpfe ein. In unserem Fall: Ich bin Fleischfresser, Sie sind Vegetarierin.
Die Welt: Und der Herr am Tisch neben uns ist Frutarier. Er isst nur, was geerntet werden kann, ohne eine Pflanze zu verletzen oder zu töten.
Popovic: (Lacht) Willkommen in Kalifornien! Das ist verrückt! Aber genau so ist das Leben: Jeder hat die Wahl. Und wenn man ein normaler Mensch ist, dann respektiert man die Wahl der anderen. Das sehe ich in Hinsicht auf Religion genau so. Du bist frei zu glauben, was du willst, solange du nicht versuchst, mich zu bekehren.
Meine Eltern waren bekannte Journalisten und Freidenker. Als wir aufwuchsen, haben meine Eltern meinem Bruder Igor und mir gesagt, wir sollten unsere Religion und unsere politische Gesinnung selbst aussuchen, sobald wir 18 sind. Politisch habe ich mich entschieden, aber nie für eine Religion.
Die Welt: Zu Hause haben Sie allerdings einen "Herr der Ringe"-Altar stehen.
Popovic: Das stimmt. Wahrscheinlich ist meine Religion Tolkienismus. Ich bin mit "Herr der Ringe" groß geworden. Das Buch ist voll von Dingen, an die ich glaube. Da gibt es zum Beispiel diesen Moment in Elronds Rat, all diese mächtigen Männer, die sich nicht darauf einigen können, wer den Ring nach Mordor bringen soll. Und dann kommt dieser kleine Hobbit und sagt: "Ich werde es tun."
Weltweit gibt es so viele Menschen, die große Dinge ins Rollen bringen. Wer war denn Lech Walesa? Elektriker auf einer Schiffswerft. Er war ein Hobbit. Nicht jemand, von dem man normalerweise erwartet, dass er sich mit der Sowjetunion anlegt und dann auch noch gewinnt. Es ist diese schöne Idee, dass selbst die kleinste Kreatur das Schicksal der Welt verändern kann.
Die Welt: Sie sind also der Frodo der modernen Revolution …
Popovic: Ich bin vieles. Manchmal bin ich ein Dickschädel wie Gimli. Ich bin auch ein Naturliebhaber wie Legolas. Aber meistens bin ich ein Hobbit und will nichts anderes, als normal sein, das Leben genießen und Dinge wachsen sehen. Meine Frau Masa sagt, dass ich auch eine gehörige Portion Gollum in mir habe. Ich habe das aufbrausende Temperament von meiner Mutter geerbt.
Die Welt: Meditation soll auch beruhigend wirken.
Popovic: Deswegen verbringe ich so gerne Zeit an Seen oder Flüssen zum Angeln. Es entspannt mich. Das ist meine Art von Meditation. Mein Vater hat es mir beigebracht, als ich sieben Jahre alt war. Man sagt, es gibt drei Phasen im Leben jedes Fischers und auch jedes Mannes: Erste Phase, fang so viele, wie du kannst. Zweite Phase, fang eine Trophäe. Dritte Phase, es ist völlig egal, was oder wie viele du fängst, Hauptsache, du kannst fischen gehen.
Die Welt: Da wir gerade von Fischen reden. Sie sind großer Monty-Python-Fan. Im Film "Die Ritter der Kokosnuss" gibt es diese großartige Szene, wo die Ritter vom Ni König Arthur damit beauftragen, den mächtigsten Baum des Waldes mit einem Hering zu fällen. Etwas Mächtiges durch etwas Lächerliches zu Fall zu bringen ist auch einer der Grundsätze des "Laughtivism", (durch gezielte Aktionen den Gegner öffentlich der Lächerlichkeit preisgeben), als dessen Mitbegründer Sie gelten.
Popovic: Revolution ist zwar eine ernste Sache, aber die gewaltfreien Aktivisten von heute versuchen, sich wegzubewegen von Wut und Aggression. "Laughtivism" ist eine interessante Komponente moderner Revolutionen. Humor lässt eine Bewegung cool aussehen, und die Menschen sind gerne Teil einer coolen Bewegung. Außerdem zerstört Humor die Autorität deines Gegners.
Oft macht er dann dumme Fehler. Denn ob Diktator oder demokratisch gewählter Politiker, diese Figuren sehen sich selbst viel zu oft in den Nachrichten und nehmen sich deshalb zu wichtig, genauso wie Prominente. Die leiden alle an einer Art von Bieberitis.
Die Welt: Klingt nicht so, als ob Sie ein Fan von Justin Bieber sind.
Popovic: Ich glaube nicht an die neue Popkultur. Ich bin in den 80ern und 90ern aufgewachsen, als Songs noch eine Bedeutung hatten. Damals hörte ich Peter Gabriel über Steve Biko singen. So wurde mir zum ersten Mal die Situation in Südafrika bewusst. Ich bekomme immer noch Gänsehaut, wenn ich daran denke.
Die Welt: Es war also alles besser früher?
Popovic: Ach, wahrscheinlich sagt das jeder Mann, der älter wird. (Lacht) Aber wissen Sie, ich treffe mich seit 20 Jahren zum Singen und Gitarre spielen mit einem meiner besten Freunde, Duda. Neulich hörte er sich den Mix der 20 erfolgreichsten Popsongs von 2012 an. Und er entdeckte, dass jeder einzelne Song aus drei Akkorden komponiert ist: B-Moll, A-Dur, G-Dur. Man braucht also nur drei Akkorde, um die gesamten Charts zu singen. Diese Musik ist ein reines Produkt.
Leute wie Justin Bieber sind ebenfalls ein Produkt und keine echten Künstler. Und wenn er heute Anne Franks Haus besucht, schreibt er ins Gästebuch, dass er hofft, dass sie ein Bieberoid oder was auch immer gewesen wäre. Das spricht für sich.
Die Welt: Seit einiger Zeit macht eine neue politische Protesttaktik viele Schlagzeilen: Nacktheit.
Popovic: Ich habe die Femen-Aktivistinnen getroffen. Ich finde sie sehr mutig, und was sie machen, ist großartig. Frauenrechte sind der nächste große Kampf, den es zu gewinnen gilt. Wir sprechen über fast ein Sechstel der Menschheit, das immer noch unterdrückt wird, sei es durch Tradition oder durch Religion.
Frauen spielen eine große Rolle im gewaltlosen Widerstand. So wie Manal al-Sharif in Saudi-Arabien, die auf YouTube zeigt, wie man Auto fährt (was Frauen in Saudi-Arabien verboten ist). Oder die Frauen, die für das Amt des Präsidenten im Iran kandidieren wollten. Oder Aung San Suu Kyi, die ich gerade in Birma traf und die sagte: "We do the impossible every day, making a miracle takes a little more time." Das sind alles beeindruckende Frauen, und sie sollten gefeiert werden, weil sie wirklich ein großes, mutiges Herz haben.
Die Welt: Wie viele Tage im Jahr sind Sie unterwegs?
Popovic: Zu viele. Letztes Jahr waren es 94 Tage. Allerdings konnte meine Frau Masa mich ein Drittel der Zeit begleiten. Und wenn ich alleine reise, habe ich immer eine Miniversion von Masa in der Hosentasche dabei (Zieht eine Schlumpfine-Figur aus der Tasche und stellt sie auf den Tisch). Es ist sehr wichtig, jemanden zu haben, ohne den man sich nicht als Ganzes fühlt und den man als seine bessere Hälfte versteht.
Wir verbringen viel zu viel Zeit damit, nach Dingen zu streben, die wir besitzen wollen. Aber viel wichtiger im Leben ist doch das, was wir geben oder teilen können. Und wir brauchen Menschen, mit denen wir teilen können. Ohne das ist das Leben doch nichts als ein endloses Mehr-haben- und Mehr-scheinen-Wollen.
Die Welt: Wollen Sie Kinder?
Popovic: Ich glaube nicht, dass man erfüllt ist, ehe man Kinder hat.
Die Welt: Sie benutzen Facebook. Mussten Sie dort schon mal jemandem die Freundschaft kündigen?
Popovic: Oft! Nachdem ich Freundschaftsanfragen akzeptiere, schicken mir viele Leute plötzlich Werbung. Ich habe keine Zeit, solche Nachrichten ständig zu löschen, also werfe ich diese Leute einfach wieder aus meinem Netzwerk. Auch wenn es um Politisches geht, vergessen viele den guten Ton. Facebook wird hauptsächlich dafür genutzt, um Leute herunterzumachen, die man kennt, und um andererseits Leute zu liken, die man nicht kennt.
Die Welt: Zum Glück lassen sich soziale Medien auch konstruktiver nutzen. Inzwischen sind sie aus dem politischen Aktivismus nicht mehr wegzudenken.
Popovic: Social Media und moderne Technologie haben die Welt des Aktivismus sehr verändert. Zum einen machen sie alles schneller und billiger. Man muss keine Poster mehr drucken und Leute finden, die diese aufhängen und dafür riskieren, festgenommen zu werden. Heute veröffentlicht man eine Aktion einfach auf Facebook. Außerdem haben sie den Preis für willkürliche Gewalt diktatorischer Regimes drastisch erhöht.
Früher konnten Autokraten wie die Assads an einem Tag Tausende Menschen abschlachten lassen, und kaum jemand hat etwas davon mitbekommen. Da waren keine ausländischen Journalisten, keine Kameras, es war leichtes Spiel. Heute ist jeder ein Berichterstatter. Jeder kann ein Foto mit seinem Handy machen.
Die Welt: Was zur Prägung des Begriffs "Facebook-Revolution" beigetragen hat.
Popovic: Meiner Meinung nach ist das eine Fehlbezeichnung. Facebook, Twitter und Co. sind lediglich die Mittel, nicht die Substanz. Denken Sie nur an den südafrikanischen Kampf oder an Mali in den 70ern. Damals hatten die Menschen keine Mobiltelefone oder Internet. Stattdessen benutzten sie ihre traditionellen Geschichtenerzähler, die von Dorf zu Dorf gingen und Nachrichten verbreiteten. Das war ihre Tradition, und der vertrauten sie mehr als dem Radio oder dem Fernseher. Die neuen Medien sind gute Werkzeuge, mehr nicht.
In Ägypten waren die meisten Menschen auf der Straße, als das Telefonsystem und Internet lahmgelegt waren. Wenn das Laptop nicht mehr funktioniert, kann man die Revolution nicht mehr von zu Hause aus verfolgen, dann muss man auf die Straße gehen, um zu wissen, was los ist. Und wenn man seine Kinder nicht mehr telefonisch erreichen kann und weiß, dass sie auf dem Tahrir-Platz sind, dann geht man da hin und sucht sie.
Die Welt: Und nun sammeln sich die Menschenmassen auch in der Türkei auf Plätzen, um gegen die Regierung Erdogan zu demonstrieren.
Popovic: Der große Unterschied zu den Aufständen in der arabischen Welt ist, dass jene in einem politisch extrem repressiven Umfeld stattfanden. Dort ging es den Menschen um das Etablieren einer sogenannten Brot-und-Butter-Demokratie. Die Türkei hingegen ist schon eine Demokratie, allerdings verlangen die Menschen dort nun nach mehr Verantwortlichkeit seitens der Regierung. Das Interessante ist, dass in der Türkei im Augenblick Menschen aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten zusammenarbeiten, um das Machtgebaren Erdogans einzuschränken. Sowohl die soziale Vielfalt der Demonstranten als auch ihre Forderungen zeigen, dass die Türkei in den letzten zehn Jahren auch im Geiste eine demokratischere Gesellschaft geworden ist.
Die Welt: Die Gefahr der Eskalation droht auf beiden Seiten. Was raten Sie den Demonstranten?
Popovic: Wenn sie gewinnen wollen, müssen sie in die Offensive gehen, aber sich gleichzeitig an die wichtigsten Erfolgsprinzipien aller People-Power-Bewegungen halten: Geschlossenheit und Gewaltfreiheit. Die vielen unterschiedlichen Gruppen, die in den letzten Tagen gemeinsam agieren und protestieren, müssen auch eine gemeinsame Vision für die Türkei der Zukunft entwickeln. Und zwar eine Vision, die die Mehrheit der Menschen in diesem gespaltenen Land einbezieht.
Noch wichtiger ist, dass die Aktionen gewaltfrei bleiben und dass sich die Bewegung von gewaltbereiten Randgruppen abgrenzt. Denn jede einzelne Gewalttat wird die Anzahl der Demonstrationsteilnehmer verringern und der Polizei eine Ausrede für scharfes Durchgreifen geben.
Die Welt: Und was raten Sie Erdogan, der mit seinen martialischen Reden der Lage nicht gewachsen scheint?
Popovic: Die Regierung muss sich im Klaren darüber sein, dass die Türkei eine gespaltene Gesellschaft ist, und sie darf den Keil nicht tiefer treiben. Tausende zu verhaften und die Demonstranten als "Säufer, Extremisten und ausländische Agenten" zu verunglimpfen schürt lediglich die Wut.
Autokratische Redensarten à la Assad werden die Situation nur verschärfen. Die Türkei ist ein großartiges Land, allerdings müssen alle Teile der Gesellschaft gehört und in den Prozess integriert werden. Nur dann können die Ereignisse in der Türkei zum Meilenstein in der Evolution zu einer liberaleren europäischen Gesellschaft werden.
Die Welt: Gerade mit Blick auf die arabischen Revolutionen geht es heute ja nicht mehr nur um die Frage, wie man eine Revolution macht, sondern auch darum, wie die Revolutionäre danach verhindern können, dass ihre Revolution von anderen Kräften, etwa den Muslimbrüdern, missbraucht wird. Was ist Ihre Prognose für Ägypten?
Popovic: Ich habe nach wie vor große Hoffnung für Ägypten. Es ist demografisch gesehen eine sehr junge Gesellschaft und ein äußerst wichtiger Kampf, da es sich um ein großes Land im Nahen Osten handelt. Und am Ende des Tages bin ich wirklich sauer auf die westlichen Medien, die einfach sagen: Oh, das hat aber nicht geklappt. Aber sie sagen nicht, dass es 15 Jahre gedauert hat in Amerika, von dem Tag, als der Kampf für Unabhängigkeit begann, bis zu dem Tag, als die Verfassung unterschrieben wurde.
Wir müssen Ägypten als eine große Chance betrachten. Ich nehme die EU und die Vereinigten Staaten in die Verantwortung: Sie müssen in dieser Übergangsphase helfen.
Die Welt: Und wie genau soll diese Hilfe aussehen?
Popovic: Sie müssen mit Experten zur Seite stehen, die schon andere Länder durch diese Phasen geführt haben. Die helfen können, ein unabhängiges Gerichtssystem zu etablieren und eine demokratische Verfassung zu erstellen. Genau so, wie sie damals Serbien geholfen haben.
Die Welt: Das Ringen um Freiheit und Demokratie findet an vielen Orten der Welt statt. Was muss die Revolution für das Erreichen dieser Ziele den Menschen bringen?
Popovic: Das größte Problem der Muslimbrüder ist, dass sie nicht halten können, was sie versprochen haben. In Venezuela hat Maduro genau das gleiche Problem. Klar, zumindest nach außen hin hat er mit einer kleinen Mehrheit über Capriles gesiegt. Aber er verlor über eine Million Stimmen, die Chávez vorher hatte. Und warum? Weil man heute in Caracas eine bessere Chance hat, gewaltsam zu sterben, als in Islamabad und Kabul zusammen. Ausgeraubt, erstochen, abgeschlachtet. Auf offener Straße. Jeden Tag.
Kriminalität, Stromausfälle, Nahrungsmangel und Hyperinflation. Man kann die Menschen auf Dauer nicht nur mit Ideologie füttern.
Die Welt: Und ihnen den Kuchen vorenthalten.
Popovic: Genau. Es ist Alltägliches, das den Menschen Sorgen bereitet, so, wie im "Auenland" – Brot, Kuchen, Unterkunft, Sicherheit, Wohlstand. Das sind die Dinge, die die Machthaber meist tatsächlich zu Fall bringen. Wenn die Menschen sehen, dass ihre Anführer nicht in der Lage sind, ihnen die Existenzgrundlagen zu garantieren, dann macht Propaganda nicht mehr satt.
Proteste in Istanbul und Ankara gehen weiter
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