Nur ein Stück Holz – Ukraine

Man könnte gar nicht reagieren. Denn auf die bloße Reaktion kommt es diesen Leuten an. Wie Terroristen, denen es ganz gleich ist, was man von ihren Aktionen hält: „Solange nur darüber gesprochen und geschrieben wird!“ Im Fall der jungen Frauen von der Gruppe „Femen“ sind die Aktionen ein fortwährender Unsinn. Ich vermute, ein wohl bedachter Unsinn, der auf eine harte Reaktion des Staates abzielt, ähnlich jener von „Pussy Riot“ in Russland.

Doch es muss reagiert werden. Freilich nicht auf die russische Art. Eine Gesellschaft sollte sich vor Verbrechern wie auch vor schwachköpfigen Vandalen schützen. Als ein früherer Insasse der sowjetischen Arbeitslager empfinde ich Schmerz: Eine Dame, die um jeden Preis berühmt werden will, hat ein hölzernes Gedenkkreuz zerstört, das just an dem Gebäude stand, in dem Stalins Häscher einst Tausende unschuldiger Ukrainer folterten und erschossen. Dabei sehnt sich die Dame keinesfalls nach der alten Sowjetunion, auch gehört sie nicht zur Kommunistischen Partei der Ukraine, die sich mit Porträts von Stalin schmückt. Ihre Zerstörungswut ist Ausdruck des Protests gegen die Verurteilung der jungen Frauen von Pussy Riot in Moskau… Ein unendlicher Schwachsinn, sinnlos, widerwärtig und dabei wohl überlegt. Ebenso wie die nackten Brüste, die nicht das Weibliche und schon gar nicht die Wollust symbolisieren, sondern nur immer wieder den gleichen widerwärtigen Unsinn. Aber was soll man machen, die Aktionen von Femen passen zu einem Land, in dem auf Kosten des Steuerzahlers eine hochmoralische Kommission aus ergrauten Bürokraten tiefsinnige Gedanken anstellt über die moralische Gefahr von Zeichentrickfilmen.

Ich verstehe: Ein Kreuz ist lediglich ein Stück Holz. Etwas banales und nicht sehr teures. Es kann ohne Weiteres wieder errichtet werden. Für das Geld der Gruppe Femen zum Beispiel. Doch ich bin nicht sicher, ob das überhaupt nötig ist. In einem Land, in dem neun Prozent der Wahlberechtigten die Absicht haben, für die Nachfolger des Tyrannen Stalin zu stimmen, für ihre Demagogie und ihre Lügen, besteht keine Notwendigkeit, die Erinnerung an die Opfer des Stalinismus wach zu halten. In einem Land, in dem ohne jegliche Ironie, ganz ernsthaft, eine staatliche Moralkommission ins Leben gerufen wird, die dann Augen und Ohren verschließt vor der schreienden Unmoral der ausführenden wie der gesetzgebenden Gewalt, kann man sich jegliche ernsthafte Diskussion über Gerechtigkeit, die Würde des Menschen und ähnliche pathetische Kategorien getrost sparen. In einem Land, das die Partisanenkämpfer gegen die totalitäre Herrschaft bis heute faktisch als „Feinde des Volkes“ ansieht, macht es keinen Sinn, entweihte Gedenkstätten für früheres Unrecht wieder herzurichten.

1974 sah ich in einer baufälligen Baracke des Ural-Lagers WS 389/35 auf einem Deckenbalken eine mit Kopierstift geschriebene Notiz aus den 40er Jahren: „25 Jahre Katorga, es bleiben noch 12, A. Gr. Maksimow“ Der stalinistische Häftling A. Gr. Maksimow endete höchstwahrscheinlich als Lagerstaub, denn aus den Ural-Lagern der damaligen Zeit kehrte gewöhnlich niemand zurück. Vielleicht lebte dieser A. Gr. Maksimow vor seiner Verhaftung in der Ukraine und wurde später hier in den Kellern des ehemaligen Instituts für Höhere Töchter gefoltert und von einer Troika verurteilt – und die heutigen Aktivisten vernichten mit einer Motorsäge die einzige materielle Erinnerung an ihn?

Wir haben zufällig, ohne eigenes Zutun, die Unabhängigkeit erlangt. Das Schicksal gab uns eine Chance. Wir, die Bewohner dieses großen Landes, tun seitdem unser Möglichstes, um diese Chance ungenutzt zu lassen. Wir alle, und unsere Präsidenten, und der sogenannte Gesetzgeber, und die hochverehrten Intellektuellen, die ihre Beobachter geschickt haben zu einer „Moralkommission“,…die sich vor Trickfilmen fürchtet. Wir sind krank, schwer krank. Seht nur die anonymen Hassausbrüche in den Internet-Foren, blickt einmal genau in die degenerierten Gesichter all jener Vertreter der „politischen Elite“, die uns nach Feudalherrenart regieren, überlegt, wie in einer nicht allzu fernen Zukunft das Leben unserer Kinder und Enkel wohl aussehen wird…

Ich verhehle es nicht: Die in ihrer ganzen Sinnlosigkeit entsetzliche Aktion der Gruppe Femen beraubt mich heute all meines früheren Optimismus.

20. August 2012 // Semjon Glusman

Quelle: LB.ua

Via: ukraine-nachrichten.de


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