Ein fleischgewordenes Neutrum fordert die Macht heraus – Tages

Mario Draghi stand am Mittwoch die Angst ins Gesicht geschrieben. Kurz zuvor hatte der 67-Jährige mit seinen einleitenden Bemerkungen zur geldpolitischen Lage Europas begonnen. So, wie es der Italiener immer tut, wenn er in Frankfurt die Zinsentscheide der Europäischen Zentralbank (EZB) den Pressevertretern näherbringt. Doch am vergangenen Mittwoch stürmte plötzlich eine junge Frau auf Draghi los. «Sie sprang mit einem recht überraschenden Satz auf den Tisch und übersäte den EZB-Präsidenten mit Konfetti und skandierte ‹End ECB dictatorship!›», so ein Augenzeuge.

Für die Reaktion des EZB-Präsidenten hatte die Jungaktivistin scheinbar wenig Verständnis. Im Gegenteil: Sie lachte herzhaft, als sie sich mit Schalk und Charme und ausgebreiteten Armen vor die versammelten Fotografenschar stellte und das verballhornte Motto ihrer Aktion zum Besten gab: «ECB Dicktatorship». Es stand auf ihrem schwarzen T-Shirt, und man wird es «sinngemäss» wohl am ehesten mit EZB-Schwanzherrschaft übersetzen.

Schmetterling auf dem Domaltar

Dicke Post für einen stets um sprachliche Ausgewogenheit und politische Korrektheit bemühten Geldpolitiker. Für die Aktivisten dagegen gehören Kraftausdrücke und Geschlechtsteile quasi zum guten Ton: Die 21-jährige Josephine Witt, die mit bürgerlichem Namen Josephine Marckmann heisst, ist nämlich eine Veteranin der ukrainischen Protestbewegung Femen.

Sie hatte in den vergangenen Jahren immer wieder mit entblösstem Busen und flotten Sprüchen gegen verschiedene Arten der Unterdrückung aufbegehrt. Nichts war ihr heilig, auch nicht die Religion. 2013 sprang Witt während der Weihnachtsmesse im Kölner Dom auf den Altar. «I am God» lautete die provokative Aufschrift auf ihrem nackten Oberkörper. Bei einem anderen Protest musste Witt sogar für vier Wochen ins Gefängnis.

Über Twitter stellte Witt gestern aber klar, dass es sich nicht um eine Femen-Aktion gehandelt habe. «Ich betrachte mich als Freelance-Aktivistin», zwitscherte Witt. Sie bezog sich auf die französische Résistance während der Nazi-Besetzung von Frankreich. Die unterdrückte Bevölkerung setzte sich damals mit gedruckten Traktaten, sogenannten Papillons – auf Deutsch Schmetterlingen – gegen die Propaganda der Vichy-Regierung zur Wehr, die sie in kleinen Auflagen in Umlauf brachte.

In Frankfurt geriet man angesichts der Aktion offenbar nicht in Panik. Witt wurde jedenfalls am Mittwochabend ohne Anklage wieder auf freien Fuss gesetzt, wie die Freelance-Aktivistin ebenfalls über Twitter verlauten liess. Sie sei bloss ein «Schmetterling», der eine Nachricht sende und gewaltlos handle, outete sich die Aktivistin auf einem im Pressezentrum verstreuten Flugzettel. «Wir werden das irrsinnige Narrativ nicht akzeptieren, das die EZB der Menschheit aufzwingen will», so das Pamphlet weiter.

Fussnoten sind nicht drauf. Aber dem Kenner wird auch ohne sie klar: Solche Repressionsrhetorik referiert – unbewusst oder bewusst – die Positionen des französischen Poststrukturalismus. Die Kritik der Repressions- und Machtausübung der herrschenden Eliten gehörte zum wesentlichen Bestandteil dieser Bewegung. Nachzulesen etwa in den Arbeiten des französischen Literaturwissenschaftlers und Philosophen Roland Barthes (1915–1980).

Auch Barthes und seine Kollegen, darunter etwa Michel Foucault (1926–1984), dekonstruierten die Narrative der Macht und stellten die Mittel der Unterdrückung als diskursive Praktiken dar. Barthes spricht wie Witt auch von einer Diktatur. Genauer von einer Diktatur der sprachlich verhärteten Sinn- und Bedeutungsformeln. Das Mittel der Wiederholung ist dabei zentral. «Unermüdliche Sprache wird zur Fortdauer der Macht», heisst es in dem 2005 auf Deutsch erschienenen «Das Neutrum».

Kampf gegen die sprachliche Verhärtung

Das heisst: Systemrepräsentanten üben durch das ständige Repetieren der Bedeutungsinhalte ihre Macht aus. «Dictare, dicto: repetitiv: wiederholen, beharrlich sagen, vorschreiben, anordnen → dictator», so Barthes' Assoziationskette der Sprach-Diktatur. Der Unterdrückung entgegen stellt der Franzose einen herrschaftsfreien Sprachbereich, der auf deklamatorische Sprachverhärtung verzichtet, um dafür schöpferische Freiheit zu gewinnen.

Um Freiheit ging es am Mittwoch auch der Sextremistin Witt. Sie kritisiert die Notenbank, weil sie in dem «irrsinnigen Narrativ» der derzeitigen Krisenpolitik selbst die Redefreiheit und die menschliche Würde als Währung akzeptiert, solange sie dem Überleben des Systems dienen. Nochmals die Stelle im Flugblatt der Femen-Aktivistin: «Because we will not accept the insane narrative that the ECB wants to impose to all people wherein even freedom of speech and dignity can be sold to the bank in order to survive.»

Der Schrecken fuhr in Draghi, weil er in der Person Witts das Ende seines Einflussbereichs erblickt haben muss. Gleichsam so, als hätte sich da am Mittwoch vor dem EZB-Präsidenten ein fleischgewordenes Neutrum aus Barthes' Universum aufgetürmt. Der archaische Spuk währte allerdings nur kurz: Nach einem kleinen Unterbruch führte Draghi, wieder in vollem Besitz seiner Kräfte, souverän durch die Konferenz.

(Tagesanzeiger.ch/Newsnet)

(Erstellt: 16.04.2015, 16:01 Uhr)

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